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Wilhelm Pitz-Preis

Im Alter nichts Gutes

Die Zukunft des Chorsängers · Eine Glosse von Angelika Richter

Der Gesetzgeber stellt sich vor, mich bis zum vollendeten 67. Lebensjahr auf der Opernbühne zu beschäftigen. Will, soll, kann ich das überhaupt? Letzteres bereitet mir dabei die meisten Sorgen. Und wer bitte will die ganzen älteren Herrschaften auf der Bühne sehen?

Ich stelle mir vor, dass der Inspizient eine halbe Stunde vor Beginn nicht nur die Zeit und das Stück ansagt, sondern auch: „Die Damen und Herren des Opernchores bitte jetzt die Hörgeräte einstellen!“ Das wird ein Geklimper geben, bis jeder seine Frequenz gefunden hat. Frau P. wird Hilfe benötigen. Sie wird die Bedienungsanleitung ihres Hörgerätes herauskramen und Herrn D., einen zwar um zehn Jahre jüngeren, aber auch schon in der Mitte der 50er-Jahre angekommenen Kollegen bitten müssen, das Gerät einzustellen.

Zum Glück hat sie sich vor fünf Jahren dazu entschlossen, beide Knie mit neuen Ersatzteilen zu versehen, sodass ihr der Gang, treppauf, treppab, nichts anhaben kann. Das Laufen funktioniert also mittlerweile wieder, jetzt aber treten hörbare stimmliche Schwierigkeiten zu Tage. Immerhin singt sie schon seit 40 Jahren. Jetzt tut sie das mit dem, was von einer einstmals schönen Stimme übrig geblieben ist.

Kein Mensch kann so lange in Topform singen. Die Stimmbänder erlahmen, sind mitunter überstrapaziert, nutzen ab, erst bröckelt die Höhe, dann rauscht es nur noch bei den tiefen Tönen. Man kann nichts weiter machen, als diesem Elend zuzusehen.

Der gemeine Stützstrumpf gehört mittlerweile zu den liebgewonnenen Utensilien von Frau K.. Ohne diesen möchte sie sich ihr Chorsängerleben gar nicht mehr vorstellen. Noch vor einigen Jahren wäre sie nicht einmal ungeschminkt ans Telefon gegangen. So ändern sich die Zeiten.

Wenigstens hält sie dank der Erfindung des Stützstrumpfes die Vorstellungen durch, ohne anschließend gleich wegen akuter Thrombosegefahr ins nächstgelegene Krankenhaus eilen zu müssen. Der Stützstrumpf an und für sich ist von einem gewissen praktisch-proletarischen Charme. Leider passt er nur selten zum Kostüm. Die Kostümabteilung ist sich des Problems wohl bewusst und versucht ihr Bestes, um den betagten Kollegen das Leben erträglich zu gestalten. Aber oft genug nützt es nichts, der Strumpf muss dann durch ein schmeichelnderes Beinkleid ersetzt werden.

Manche der Kolleginnen heiraten beizeiten gut und reich ein. Sie können gehen, wann sie wollen, und es wird für sie gesorgt. Die anderen, die für sich selber sorgen müssen, trifft es härter. Das macht jeden Tag mehr Mühe.

Auch, dass man unverständliche Regieanweisungen zu befolgen hat von Leuten, die noch nicht geboren waren, als man selbst anfing zu singen. Neuerdings spielen die Opern auf Damentoiletten oder Müllhaufen, auch gern im Weltall, an Imbissstuben oder im Afghanistankrieg.

Ihr Verfallsdatum, um diesen Beruf wirklich gut und für alle Beteiligten befriedigend ausführen zu können, hat Frau P. nun wirklich überschritten. Sie weiß auch, dass sie jüngeren Kollegen den Eintritt in den Beruf verwehrt. Sie muss arbeiten, sonst erhält sie keine Rente, die diesen Namen verdient hätte. Ergo: zu viele alte Leute im Chor, und die Jungen stehen draußen und müssen warten.

Neben dem Eingang zur Bühne ist glücklicherweise genügend Platz, um die Rollstühle der Chorkollegen in einer Reihe aufzustellen. Wer die Treppen nicht mehr packt, wird vom Zivi (falls es so etwas dann noch gibt) zum Auftritt gekarrt. Die Dirigenten haben das Alter der Enkel, auch sie werden sich auf den Rentnerchor einstellen müssen: die Pausen etwas länger gestalten, etwas lauter spielen. Schnelle Umzüge hinter der Bühne funktionieren schon lange nicht mehr. Vor 30 Jahren standen bei diesen Gelegenheiten die Kollegen der Technik gern in den Ecken, um zuzuschauen, wie sich die Damen des Chores schnell umzogen. Da gab es dies und jenes Schicke und Sehenswerte zu betrachten. Das ist nun vorbei. Heute dreht man sich peinlich berührt um.

Die drei Stunden Bühnenproben kann nur noch ein Bruchteil der Kollegen komplett absolvieren, die anderen sitzen herum und versuchen, so gut es geht, vom Knie auf die Füße zu kommen. Verrückt im wahrsten Sinne des Wortes wird es, wenn sich Herr S. weigert, sein Traviata-Kostüm anzuziehen, weil er felsenfest davon überzeugt ist, dass heute „Carmen“ gegeben wird. Nur mit gutem Zureden und äußerst widerwillig zieht er sein Kostüm an. Da er straff auf die 80 zugeht und mitunter die Wochentage durcheinander bringt, ist dieser kleine Zwischenfall schnell vergessen. Dummerweise ist er auch noch von Nachtblindheit geschlagen, man muss ihm von der Bühne helfen. Wer dirigiert, interessiert Herrn S. schon seit zirka 25 Jahren nicht mehr.

Auf der Hinterbühne wurde schon seit Jahren eine kleine Ablage installiert, auf der jeder seine Sehhilfe ablegen kann, um sie dann sofort nach Verlassen der Bühne wieder aufzusetzen. Mitunter gibt es Turbulenzen, wenn ein Kollege aus Versehen die Brille verwechselt hat.

Richtig gruselig wird es, wenn es gilt, einen „Mädchenchor“ zu besetzen. Da drücken sich gleich 20 Damen in den Ecken herum, um ja nicht aufzufallen. Drei oder vier Mittfünfzigerinnen sehen noch ganz gut aus, obwohl der Zahn der Zeit auch an ihnen bereits sichtbar genagt hat. Da sie zur „jungen Generation“ gehören, müssen sie ran. Notfalls eben mit zwei Stunden Vorlauf in der Maske. Auf die Entfernung ist dann nicht mehr zu erkennen, dass auch diese Damen den Zenit ihrer einstmaligen Schönheit bereits überschritten haben.

Freizeit gibt es fast gar nicht mehr, weil jeder die Nachmittage damit zubringt, Physio-
therapeuten oder Thermalbäder aufzusuchen oder einfach die paar Stunden zwischen den Proben im Bett verbringt, um die müden Knochen auszuruhen. Denn um 19 Uhr geht es wieder los. Tagein, tagaus.

Fremdsprachige Texte merken sich auch nicht mehr so leicht. Manchmal kann man auf vor 30 Jahren Gelerntes zurückgreifen. Längst verloren geglaubte Texte kommen aus der hintersten Ecke des Gehirns zurück. Man erinnert sich dann gern an alte Inszenierungen, die allerdings mitunter auch schon fragwürdig waren. Mit dem gnädigen Rückblick jedoch werden sie geradezu epochal. Das Gedächtnis lässt Hässliches und Unangenehmes gern in Vergessenheit geraten.

Der Jahressommerurlaub muss immer öfter für den Erhalt der Arbeitskraft genutzt werden, zum Beispiel zum Besuch der guten alten Bäder in der Tschechei, wo schon Goethe im vorgerückten Alter den Jungbrunnen vermutete.

In die Kantine schaffen es nur noch die forschen und flinken Kollegen. Dort stehen dann Seniorenteller und sonstige Leckereien auf dem Speisezettel. Auch Abführtees oder Fitness-Getränke werden feilgeboten. Es ist ja nicht so, dass sich der Arbeitgeber diesbezüglich nicht flexibel zeigt. In den Toiletten befinden sich Windelspender für den E.- Fall. Man muss wohl nicht erklären, wofür manch einer so etwas benötigt.

Sieht so die Zukunft des Chorsängers aus?

Angelika Richter ist Mitglied im Opernchor Leipzig.

 

 

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