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Berichte

Triumph des Überlebens

Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ in Frankfurt · Von Wolf-Dieter Peter

Die Filmbilder Leni Riefenstahls von den kurzlebigen Triumphen des Nationalsozialismus mögen noch so gelungen sein – an der Frankfurter Oper bestätigte sich erneut, dass der Triumph erlebter Befreiung von aller Inhumanität größer und bewegender ist. „Wir haben gewonnen!“ – der Finalsatz aus Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“ stand virtuell über der Bühne, als die 92-jährige Auschwitz-Überlebende Zofia Posmysz „neben sich“, sprich: ihrer Bühnenfigur stand und über alle Bravostürme hinaus sich das Publikum zur Ehren-Ovation erhob. Erneut hatte zuvor in Mieczysław Weinbergs Musikdrama „Die Passagierin“ große Kunst über grausige Realität triumphiert.

Anna Ryberg als Katja, Jenny Carlstedt als Vlasta und Sara Jakubiak als Marta mit Mitgliedern des Ensembles. Foto: Barbara Aumüller

Anna Ryberg als Katja, Jenny Carlstedt als Vlasta und Sara Jakubiak als Marta mit Mitgliedern des Ensembles. Foto: Barbara Aumüller

Die 18-jährige Zofia war 1942 in Auschwitz gelandet und hat als Nichtjüdin überlebt. Nach dem Krieg hatte sie bei einem journalistischen Aufenthalt in Paris ein Schockerlebnis: Sie glaubte, ihrer KZ-Aufseherin wieder zu begegnen. Das Grauen hat sie als Erzählung, Hörspiel und Roman künstlerisch überhöht: 15 Jahre nach Kriegsende, auf der Überfahrt nach Brasilien, glaubt die inzwischen mit einem deutschen Diplomaten verheiratete, also „arrivierte“ Ex-Aufseherin Lisa in einer Passagierin die KZ-Insassin Martha zu erkennen. Sie hat die junge Polin damals ausgenutzt, drangsaliert und deren Verlobten letztlich dem Tod ausgeliefert. Die Vergangenheit holt Lisa nun ein.

Das von Weinbergs Freund Alexander Medwedew aus dem Roman gefilterte Libretto frappiert mit deutschen Sätzen wie „Wir dürfen den Krieg und das alles vergessen“, mit der polnischen Feststellung „Wie weh es tut, ein Mensch zu sein“, der russischen Frage „Haben die Deutschen auch einen Gott?“ und dem Chor-Ruf „Die Nacht dauert nicht ewig“ – in Bibi Abels unaufdringlichen Videos wie Gefängniskritzeleien auf die Schiffswände projiziert.

Peter Marsh als Walter, Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak. Foto: Barbara Aumüller

Peter Marsh als Walter, Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak. Foto: Barbara Aumüller

Weinbergs Oper braucht gerade aus deutscher Sicht kein moralisches Wohlwollen: Sie ist zuerst exzellente Theatermusik, die die unterschiedlichsten Szenen musikdramatisch trägt und prägt. Weinberg schafft die fröhliche Atmosphäre eines Luxusliners mit Tanzmusik von einer Combo. Doch diese schicke Oberflächlichkeit wird durch Klänge gebrochen, die Parallelen zu Schostakowitschs Symphonien und den schrägen Tänzen und Umbrüchen in dessen „Lady Macbeth von Mzensk“ erkennen lassen. Hartes Schlagwerk begleitet die Phrasen der deutschen SS-Mannschaften, gewürzt mit Zitaten aus Marsch und Walzer. Marthas Verlobter Tadeusz spielt auf der beschlagnahmten Edelgeige dem Lagerkommandanten nicht den gewünschten banalen Operetten-Walzer, sondern die entlarvend „saubere“ Musik einer Bach-Chaconne – sein Todesurteil durch „deutsche Musik“. Daneben erklingen anrührende russische Volksliedmelodien, gehauchte Leidenschöre, kurz aufblühende Melodien für süße Rückerinnerungen, religiöse Bitten, kurze emphatische Hoffnungsphrasen – oft fühlt man sich an den insistierenden, rhythmisch vibrierenden Klageton Leoš Janáčeks erinnert. All dies machte der binnen fünf Tagen eingesprungene Dirigent Christoph Gedschold mit dem Frankfurter Chor (perfekt abgestufte Einstudierung: Tilman Michael) und Orchester differenziert und eindringlich hörbar. Gesungen wurde werkgetreu „europäisch“ – Polnisch, Deutsch, Russisch, Französisch von einem bestechend typengenauen Hausensemble (stellvertretend für alle: Anna Rybergs anrührendes, russisches Volkslied vom Heimat-Tal) – und nur zwei Gästen. Der bärenhaft-wuchtige Tadeusz von Bariton Brian Mulligan ragte mit Wärme und Liebesgewissheit heraus. Tanja Ariane Baumgartner wechselte als Lisa zwischen kaltem Aufseher-Ton und verunsicherter Damenhaftigkeit an der Seite des gekonnt glatten BRD-Diplomaten von Peter Marsh. Im Zentrum aber stand Frankfurts Sopran-Entdeckung Sara Jakubiak: eine traumschön langhaarig geheimnisvolle Passagierin auf dem Schiff und eine kahlköpfige KZ-Insassin Martha in Häftlingskleidung, mal kühle Überlegenheit ausstrahlend, mal in emotional aufgeladenen Phrasen Seele aufleuchten lassend.

Für die nach Bregenz und Karlsruhe erst dritte Inszenierung hat das Bühnenteam um Anselm Weber (Regie), Katja Haß (Bühne) und Bettina Walter (Kostüme) eine faszinierende Lösung gefunden. Im schwarzen Raum, unter der später wie eine Lagergrenze wirkenden Beleuchter-Galerie, tauchte ein großer, weißer Schiffsbauch mit Kajütentüren und Treppen auf – doch es ist ein „stream-of-consciousness“-Raum, unser aller verdrängtes „Inneres“ hinter schicker Außenhaut: Die Türen führten nach Drehbühnenschwenks mal in die KZ-Baracke im Inneren, mal in den Tanzsalon des Passagierschiffs und dann wieder auf den Appellplatz des Lagers; der weißgewandete Schiffsoffizier stand einen Moment später als SS-Mann in der Tür; Lisas Ehemann ging „schuldlos-unbeteiligt“ mit Anzug und Pfeife durch die kurz ruhenden KZ-Frauen; einmal standen sich Aufseherinnen-Schlagstock und Marthas kleine Geburtstagsrose konfrontativ gegenüber; in theaterhandwerklich perfekten Masken- und Kostümwechseln beschwor die zerbrechlich „ausgehungert“ wirkende, kahl geschorene Martha das einstige Orgelspiel von Tadeusz als Hochzeitsersatz, stürzte durch eine Kajütentür davon, um kurz darauf als langhaarige, schlank-schöne Passagierin im schwarzen Designerkleid Lisa zunächst erstarren zu lassen. Als diese Passagierin schließlich ihre Langhaar-Perücke abzog und KZ-kahlköpfig wie einst dastand, brach Lisa zusammen.

Doch am Ende erinnerte die Passagierin in einer Paraphrase an Paul Eluards „Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“… Da war dem Team um Anselm Weber eine bewegend große Interpretation eines Werkes gelungen, das in alle Spielpläne gehört, besonders die in der einstigen „Hauptstadt der Bewegung“ oder der ehemaligen „Reichshauptstadt“.

Wolf-Dieter Peter

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