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Berichte

Maueröffnung und Totaltheater

»Turandot« und »Hoffmanns Erzählungen« bei den Bregenzer Festspielen

Die neue Intendantin Elisabeth Sobotka setzt die Bregenzer Dramaturgie erfolgreich fort. So holte sie für die riesige Seebühne einen Regisseur, der „in Räumen denkt“. Marco Arturo Marellis 72 Meter breiter Nachbau der Chinesischen Mauer beeindruckte visuell. Doch so wie die 205 Terrakotta-Krieger-Imitate reine Staffage blieben, verschenkte Marelli die ja auch realpolitisch hochaktuelle Maueridee: als Bildsignal für die inhuman abgeschlossene Herrschaft der emotional eisigen, traumatisiert verschlossenen Prinzessin Turandot – die sich dann öffnen könnte zum Höhepunkt ihrer Entwicklung zur liebenden Frau im Finale. Aber Marelli bot seinen spektakulärsten Bühnencoup gleich zu den ersten Fortissimo-Takten der Wiener Symphoniker unter Paolo Carignani: Der Mittelteil der Mauer stürzte ein – doch leider nur als praktische Auftrittsmöglichkeit zur zentralen Spielfläche.

Turandot (Mlada Khudoley) und Altoum (Manuel von Senden). Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Turandot (Mlada Khudoley) und Altoum (Manuel von Senden). Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Weitere Interpretationsansätze reihten sich: die Volksmasse im grauen „Mao-Look“; mal eine in Diktaturen typische bunte „Brot-und-Spiele“-Show; dann auch eine vergnügungssüchtige Party-Society der 1920er-Jahre, die sich an Puccinis Bemühungen um Turandot sowie Lius Folterung sensationsgierig delektierte; die Gleichsetzung von Puccinis Ringen um das Werk mit dem Ringen des „fremden Prinzen“ Kalaf um Turandot, ebenso die Gleichsetzung der Sklavin Liu mit dem realen Hausmädchen Doria Manfredi. All diese Ansätze steigerten sich aber gegenseitig noch zu wenig. Gesungen wurde zwar durchweg gut – doch zu wirklicher Beseelung fand nur Guanqun Yu als Liu, deren Liebestod-Opfer anrührte und ihr zu Recht den einzigen Bravo-Sturm am Ende eintrug. Sie war ein Plädoyer gegen alle Mauern…

„Hoffmanns Erzählungen“. Bengt-Ola Morgny als Spalanzani, Kerstin Avemo als Olympia. Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

„Hoffmanns Erzählungen“. Bengt-Ola Morgny als Spalanzani, Kerstin Avemo als Olympia. Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Szenenwechsel zu „Hoffmanns Erzählungen“: Sang der verstärkte Prager Philharmonische Chor für die Seebühne wie gewohnt vom Podium im geschlossenen Innenraum aus und wurde durch die exzellente Bregenzer-Open-Acustics selbst im Piano des „Mond-Chors“ fein abgestimmt nach draußen verstärkt – so waren die Damen und Herren (alle mal in Hoffmann-Maske, mal in Strapsen, mal als automatenhafte Gesellschaftspüppchen) von Offenbach-Regisseur Stefan Herheim fast durchweg solistisch in eine phantastische Totaltheaterhandlung eingebunden – und von Lukáš Vasilek blendend einstudiert. Hoffmann fragt sich ja im Original, ob er das „Spielzeug eines Traumes“ ist. Daraus entwickelte Herheim ein „Bewusstseinsstrom“-Theater: Realität, Erinnerung, Sehnsuchtsvision, Alptraum, Hoffnung und Scheitern durchdringen sich wie in einem trans- und poly-sexuellen Rausch-Traum mit Glitterglanz und Tristesse, echter Emotion und perfid-tödlicher Täuschung in Rollen- und Geschlechterwechseln. „Buh! Das hat nichts mit Offenbach zu tun!“, schallte es nach wenigen Minuten aus der ersten Reihe des Parketts, ein reifer Mann stand wütend auf, enterte die Bühne und forderte die „echte phantastische Oper“ von Jacques Offenbach: Dafür verwandelte er sich in den Rat Lin-dorf – es war Bariton Michael Volle als durchgängig wuchtiger Widerpart Hoffmanns, der aber in Strapsen und Korsett Antonias Mutter böse imitierte, bis diese dann im Glitterkostüm die Tochter zum tödlichen Show-Auftritt verführte. Volle wie sein Gegenpart, die reizvolle Muse von Rachel Frenkel, bespielten mehrfach das Parkett. Dazu durchweg: die sich zu immer neuen Räumen und einem finalen Rialto-Imitat auffaltende Treppe von Christof Hetzer, rasante Bühnenaktionen, Projektionen auf seitlichen Vorhängen und die szenisch ergänzenden Videos auf dem schwenkbaren Bühnenhimmel (technisch perfekt vom „Fettfilm“-Team) samt einem Jacques Offenbach (glänzend parodistisch Christophe Mortagne), der mit seinem Cello hereinkam, vielfach mit seiner wundersam mächtigen Komponier-Feder dirigierte und auch alle Dienerrollen übernahm – all das, gesteigert durch die stupenden, Geschlechtergrenzen auflösenden Kostümwechsel von Esther Bialas und vieles, vieles mehr ergab einen Eindruck von überwältigendem Totaltheater.

Mandy Fredrich als Antonia mit der Hoffmann-Puppe. Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Mandy Fredrich als Antonia mit der Hoffmann-Puppe. Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Das gelang auch, weil der in seinen Frankfurter Jahren zum Musiktheater-Dirigenten gereifte Johannes Debus mit den eher romantisch üppig aufspielenden Wiener Symphonikern all dies mittrug. Er war sich mit Herheim einig, dass auch nach vielen Notenfunden nicht feststeht, wie Offenbach selbst den letzten Akt vollendet hätte. Beide und Dramaturg Olaf Schmidt entschlossen sich, aus der wilden Aufführungsgeschichte die vom Publikum erwarteten Nummern hereinzunehmen: das 1904 in Monte-Carlo eingefügte Septett mit Chor, auch die 1905 in Berlin adaptierte „Spiegel-Arie“ – die beide nicht von Offenbach stammen. Daraus wurde eine theatralische Konfrontation an der Rampe mit den Klischee-Erwartungen des Publikums vom „reifenden Künstler“ – wogegen der „erzählte Erzähler“ Hoffmann im Venedig-Akt Kontrolle und Ich-Bewusstsein verliert. Der schwedische Tenor Daniel Johansson war über seine blendende Bühnenerscheinung hinaus bis zu seinem bitteren Ende ein stimmlich beeindruckender Sänger-Dichter. Alle seine Träume wurden als ruinöser Schein entlarvt: die Glitzerwelt des Cabarets um Stella (frappierend als stumme Drag-Queen und Transvestit Pär Karlsson), das Koloraturen produzierende Society-Püppchen Olympia (brillant Kerstin Avemo), der tödliche Ruhm des Gesangsstars Antonia (schwelgerisch strahlend Mandy Fredrich), die rettende Kraft der Kunst in Person der Muse. Letztere drei flossen im gleichen Glitter-Abendkleid und Blond-Perücken zum wahnhaft enttäuschenden, weil nicht wirklich existierenden Triple-Sex-Star Giulietta zusammen. Doch ihre Botschaft an den durch Ich-Verlust und einen Selbstmord-Messerstich wie scheintot wirkenden Hoffmann und an das dennoch nach all diesen „liebgewonnenen, schönen Figuren“ gierende Publikum lautete: „Groß durch die Liebe, doch größer noch durch Leid“ – Offenbachs Aussage: „Das ist keine opéra comique, sondern ein ernstes Werk, absolut tragisch“, war erfüllt. Stumme Überwältigung, dann Jubelstürme und stehende Ovationen. Ein fulminanter Festspielabend, der zu mehrfachem Besuch herausfordert.

Wolf-Dieter Peter

 

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