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Irritation und Begeisterung

Regisseur und Autor Carsten Kirchmeier im Gespräch

Carsten Kirchmeier engagierte sich neben seiner Arbeit als Regieassistent und Abendspielleiter früh für das Kinder- und Jugendtheater. Seit der Spielzeit 2008/2009 ist er Leiter der szenischen Einstudierung und Regisseur am Musiktheater im Revier (MiR). Er zeichnet verantwortlich für Text und Regie zahlreicher Kinderopern. In der letzten Spielzeit schrieb und inszenierte er „Das Gespenst von Canterville“ nach einem Märchen von Oscar Wilde. Über seine Theatererfahrungen mit Kindern und Jugendlichen sprach Georg Beck für „Oper & Tanz“ mit dem Regisseur.

Oper&Tanz: Die größte Sünde im Kinder- und Jugendtheater?

Carsten Kirchmeier: Es nicht ernst nehmen, versuchen irgendetwas vorzugaukeln.

O&T: Das größte Glück?

Kirchmeier: Im Zuschauerraum sitzen und mitkriegen, wie Kinder reagieren, bemerken, wie eng sie dran sind am Geschehen.

O&T: Beides schon mal passiert?

Kirchmeier: Das größte Glück schon, das größte Unglück zum Glück noch nicht.

O&T: Wer macht da eigentlich was für wen? Kinder- und Jugendtheater – ist das nun ein Theater von Kindern und Jugendlichen für Kinder und Jugendliche oder von Profis für Kinder und Jugendliche?

Carsten Kirchmeier. Foto: Pedro Malinowski

Carsten Kirchmeier. Foto: Pedro Malinowski

Kirchmeier: An diesem Haus, am MiR, ganz klar Letzteres. Nur die Ergänzung ist wichtig: mit Anregung von Kindern und Jugendlichen! Ein Beispiel: Wir haben eine Partnerschule in der Stadt; die waren hier in der zurückliegenden Spielzeit: 5. bis 10. Klasse. Eine große Veranstaltung. Wir haben die Bühne gezeigt und hatten eine Sängerin, Petra Schmidt, die hat zur Klavierbegleitung eine Arie aus „La Bohème“ gesungen.

O&T: Und wie war‘s?

Kirchmeier: Die Kinder haben erst mit Lachen reagiert, dann aber wurde das immer weniger und hinterher haben sie tosenden Applaus gespendet.
O&T: Unisono?

Kirchmeier: Ja, soweit ich das mitbekommen habe.

O&T: Das überrascht deswegen etwas, weil 10. Klassen ja doch stark pubertieren…
Kirchmeier: Und trotzdem hat es geklappt! Zwar gab es zunächst natürlich Irritation, Gelächter. Aber schon bei den Pianostellen war man leise. Und wir im Parkett, wir haben auf einmal gemerkt, dass die so etwas gar nicht kennen, andererseits aber durchaus mit so etwas abzuholen sind!

O&T: Was ist denn so drin in Ihrem theaterpädagogischen Angebotsköcher?

Kirchmeier: In dieser Spielzeit sind es zwei Stücke: „Schaf“ und „König Hamed und Prinzessin Sherifa“. Sonst hatten wir immer eine Kinderoper explizit ab 5 Jahren. Weil wir aber gemerkt haben, dass die Altersspanne von 5 bis 12 doch sehr groß ist, haben wir jetzt ein Stück, das wir für Kinder von 5 bis 7 Jahren anbieten und ein anderes von 7 bis 12 Jahren.

O&T: Sie sagen jetzt Kinder? Was tut das MiR für die Jugend?

Kirchmeier: Da gibt es spezielle, etwas anders gestrickte Projekte, „Oper kurz.gefasst“ zum Beispiel wie letztes Jahr die „Zauberflöte“ oder Workshops für Jugendliche, so dass sie auch selber Musiktheater machen können.

O&T: Woher wissen die Profis eigentlich, wie Kinder fühlen? Muss man für so einen Job nicht eigentlich Berufsjugendlicher sein?

Kirchmeier: Ein bisschen Kind ist ja immer in uns. Und außerdem: So universelle Dinge sind ja doch für Kinder und Erwachsene gleich. Zum Beispiel Liebe! Bestimmte Grundemotionen sind doch in allen Altersgruppen vorhanden.

O&T: Einverstanden. Andererseits geht die Stimmungslage von Kindern, von Jugendlichen („Warum habe ich keinen Freund?“ – ein Plakat, das ich neulich an einer Bushaltestelle sah) doch in eine Richtung, die wohl etwas anders gelagert ist als sogenannte Partnerprobleme von Erwachsenen.

Marcel Kaiser, Maria Alishia Funken, Georg Gädker und Banu Böke im „Gespenst von Canterville“. Foto: Pedro Malinowski

Marcel Kaiser, Maria Alishia Funken, Georg Gädker und Banu Böke im „Gespenst von Canterville“. Foto: Pedro Malinowski

Kirchmeier: Wir sehen das so: Man muss irgendwo andocken und die Kinder abholen. Vor drei Spielzeiten hatten wir ein Stück „Das Kind und der König“, wo alle Kinder aus einem Königreich verbannt worden sind, weil der König nicht selber Kind sein konnte.

O&T: Wie waren die Reaktionen?

Kirchmeier: Sehr positiv!

O&T: Woran merkt man das? An der Stille?

Kirchmeier: Nein, nicht unbedingt! Eher daran, dass auch mal ein Kommentar zum Nachbarn übermittelt wird oder daran, dass die böse Stiefschwester am Ende ausgebuht wird! Dann weiß man, man hat erreicht, ihnen etwas nahezubringen. Was übrigens auch einige unserer Darsteller noch lernen müssen. Einige Sänger etwa waren ziemlich schockiert.

O&T: Schockiert? Inwiefern?

Kirchmeier: Nun, weil sie meinten, ihr Publikum sei nicht bei der Sache. Zuviel Unruhe! Die Frage ist aber doch: Gibt es jetzt Unruhe, weil sie nicht dabei sind oder weil sie dabei sind?!

O&T: Wie finden Sie eigentlich Ihre Geschichten? Hört man da als Regisseur, der auch selber Stücke schreibt, in sich hinein?

Kirchmeier: Wenn, dann jedenfalls nicht allein. Da ist die Dramaturgie schon eingebunden. Da überlegt man gemeinsam, was passen könnte. Und eins kommt ja hinzu: Da es uns hier ums Musik- und Tanztheater zu tun ist, muss man Kinder und Jugendliche doch an die Musik heranführen. Wir arbeiten ja viel und gern mit dem Pasticcio-Verfahren, also indem wir etwa bei meiner Adaption des „Gespenst von Canterville“ passend zum Handlungsverlauf amerikanische Broadway- und englische Barockmusik collagieren. Jugendliche, aber auch wir Erwachsene hören heute ja auch viel parallel...

„Das grösste Glück ist es, im Zuschauerraum zu sitzen und zu bemerken, wie eng sie dran sind am Geschehen.“

O&T: Wie reagieren Ihre jungen Hörer eigentlich auf all diese Konzerterlebnisse, auf ein Orchester, auf die große Arie? Von Kindern und Jugendlichen konsumierte Musik ist ja doch in der Regel „plugged music“, kommt aus dem Player oder im Konzert aus der Box...

Kirchmeier: Erstaunlicherweise ist es nicht die Live-Musik, die stört oder verstört. Wenn Verwunderung aufkommt, dann eher deswegen, weil und wenn auf der Bühne gesungen wird. Nicht generell, aber bei großen Arien, da kommt es schon vor, dass da gemosert wird und dass es dauert, bis so eine zaghafte Äußerung kommt: schön gesungen! Das ist dann schon viel.

O&T: Gibt es eigentlich Nachbesprechungen bei Ihnen am MiR?

Kirchmeier: Ja klar, das ist wichtig für uns, solche Gesprächsrunden, wo man feststellen kann: Wie ist es eigentlich angekommen? Was haben sie mitgekriegt, was nicht? Ja, das ist schon wichtig für uns.

O&T: Zum Beispiel?

Kirchmeier: Unser Projekt „Mission: Possible“ in der zurückliegenden Spielzeit. Unsere Theaterpädagogen hatten eine Gruppe aus einer Schule eingeladen. Das heißt dann, sich an einem Tag in der Schule zu treffen zusammen mit einem Perkussionisten. Dort wird dann ein Thema vorgeschlagen beziehungsweise vorgegeben. Nächster Schritt: die Schüler mit den Klängen vertraut machen. Letztes Jahr hatten wir das Thema „Eiswelt“.

O&T: Und wie geht es dann weiter?

Kirchmeier: Die Kinder kommen zu uns, treffen auf zwei Sänger, auf Schauspieler, einen Pianisten, einen Regisseur, einen Bühnenbildner. Alle liefern ihre Ideen ab und wir haben zwei Wochen Zeit, daraus ein 50-Minuten-Theaterstück zu machen. Übrigens: Letztes Jahr hatten wir eine Gruppe, da waren neunzig Prozent Kinder mit Zuwanderungsgeschichten. Die Folge: Wir haben uns entschieden, in dieser Produktion auf jegliche Worte zu verzichten!

O&T: Das klingt nach einem ziemlichen Verständigungsproblem ...

Kirchmeier: Ja, was soll man machen, wenn viele überhaupt nicht gut Deutsch sprechen können? Deshalb fiel die Entscheidung, viel mit Pantomime zu machen, mit Tanz, mit Geräuschen. Das ist ein Konzept, wo Handlung nicht oder jedenfalls nicht bestimmend über Worte transportiert wird.

O&T: Theater kann helfen, wenn die Sprachbarrieren groß sind?

Kirchmeier: Allemal, wir sind in Gelsenkirchen, im Ruhrgebiet.

O&T: Ist Kinder- und Jugendtheater also eine Riesenchance fürs Ruhrgebiet?

Kirchmeier: Und fürs Theater!

O&T: Herr Kirchmeier, Sie sind seit sieben Jahren am MiR – was hat man da noch für Ziele?

Kirchmeier: Dranbleiben!

Georg Beck

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