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Immer eine Herausforderung

Zeitgenössisches Musiktheater im Chor

Wie erleben Chorsänger zeitgenössisches Musiktheater? An der Oper Stuttgart werden regelmäßig Opernwerke der Neuen Musik gespielt. Barbara Haack sprach darüber mit Ulrich Wand und Henrik Czerny, Mitgliedern des Stuttgarter Opernchors.

Oper & Tanz: Zeitgenössisches Musiktheater hat sicher Besonderheiten, auch für den Chor. Wenn Sie erfahren, dass es eine neue zeitgenössische Produktion gibt: Wie gehen Sie darauf zu? Sind Sie neugierig – oder eher skeptisch?

Ulrich Wand: Das erste, was man im Chorsaal hört, wenn so etwas verkündet wird, ist ein tiefer Seufzer. Natürlich unterscheiden sich Chorsänger voneinander. Es gibt diejenigen, die es hassen, und solche, die es toll finden.

Henrik Czerny: Es ist auf jeden Fall immer eine Herausforderung für uns. Wenn wir wissen, dass ein zeitgenössisches Stück kommt, dann interessiert uns zunächst einmal: Wurde es schon einmal auf einer Bühne aufgeführt oder nicht? Wir haben in Stuttgart viele zeitgenössische Opern gemacht. Alle zwei oder drei Jahre kommt so ein Stück. Dann überlegt man als allererstes: Wie viel Aufwand ist das? Muss man erst einmal mit einer „Bedienungsanleitung“ anfangen, um das Stück überhaupt zu verstehen? Was ist stimmlich gefordert? Wenn das Stück schon einmal irgendwo aufgeführt wurde, kann man auf Erfahrungen zurückgreifen. Wenn es ganz neu ist, liegt schon ein großer Brocken vor einem.

O&T: Hat dieser Seufzer im Chorsaal damit zu tun, dass viele neue Herausforderungen, dass Unbekanntes auf Sie zukommt, oder hat es mit der Art der Musik zu tun?

„wunderzaichen“ in Stuttgart mit Kora Pavelic als 1. Beamtin, André Jung als Johannes, Maria Theresa Ullrich als 2. Beamtin und dem Opernchor Stuttgart. Foto: A.T. Schaefer

„wunderzaichen“ in Stuttgart mit Kora Pavelic als 1. Beamtin, André Jung als Johannes, Maria Theresa Ullrich als 2. Beamtin und dem Opernchor Stuttgart. Foto: A.T. Schaefer

Wand: Es hat damit zu tun, dass es eine Belastung ist. Herausfordernd ist diese zeitgenössische Musik im Allgemeinen nicht. „wunderzaichen“ zum Beispiel von Mark Andre, das wir in der letzten Spielzeit uraufgeführt haben, kann ich mehr oder weniger vom Blatt lesen. Das ist relativ einfache Musik. Aber es ist innerhalb eines Jahres nicht möglich, sie auswendig zu lernen. In jedem Takt ändert sich die Zählzeit, es gibt kein System, es gibt keine richtigen Töne mehr, keine Worte. Es gibt nichts, woran man sich festhalten könnte. Mark Andre hat das Schweigen vertont, das Nicht-Tönen. Ich persönlich finde, dass es, wenn es über länger als zwei Stunden geht, anstrengend wird, auch für den Zuhörer. Ich finde: Es ist viel Aufwand mit wenig Ertrag. „wunderzaichen“ war immer ausverkauft, war ein Riesenerfolg. Ich persönlich habe das aber nicht wahrgenommen.

O&T: Was machen Sie denn, wenn es nicht möglich ist, die Noten auswendig zu lernen? Am Schluss müssen Sie doch auswendig singen.

Czerny: Wir haben ja vor einigen Jahren „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ gespielt. Da saß der Chor auf der Seite – mit Noten. Und das war schon schwer genug. Wenn es ganz auswendig gehen muss, ist es schwierig. Als ich hier 1994 anfing, haben wir „Intolleranza“ von Luigi Nono aufgeführt. Wir waren damals der erste Chor, der das Stück auswendig gesungen hat. Nono ist mittlerweile ein Klassiker. Man kriegt das auswendig schon hin, allerdings hier und da mit Verlusten… Da gibt es schon mal eine Stelle, die nicht eins zu eins so rüberkommt, wie sie notiert ist. Aber im Vergleich war das, was danach an zeitgenössischer Musik auf uns zukam, ungleich schwerer, weil wir vielfach gar nicht mehr mit Tönen zu tun haben, sondern mit Geräuschen, mit endloser Takte-Zählerei. Das auswendig zu lernen, grenzt mittlerweile fast ans Aussichtslose. Deshalb muss man manchmal tricksen. Das fängt damit an, dass man Monitore hinter die Bühne stellt mit Taktzahlen, damit die Leute wissen, wo sie ungefähr sind. Oder man hängt einen Zettel in großer Notenschrift hinter die Bühne, um zwischendurch einen Anhaltspunkt zu haben.

O&T: Heißt das, dass die Komponisten an den Erfordernissen und Möglichkeiten der Bühne vorbei komponieren?

Wand: So weit es uns betrifft, kommt das vor.

O&T: Kommt es vor, dass sie auf Sie zukommen und fragen, was geht und was nicht?

Wand: Manchmal kommen sie auch in den Chorsaal. Einer unserer Chorsänger hat letztes Jahr Mark Andre gefragt, ganz naiv: Warum komponieren Sie nicht mal eine Melodie, die man nachsingen kann? Er hat völlig verständnislos geguckt und die Frage einfach nicht verstanden. Diese Menschen ticken so anders, die verstehen unsere Bedürfnisse überhaupt nicht.

Czerny: Beim „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hatten wir eine Anleitung von Helmut Lachenmann. Sein Assistent kam zu uns in den Chorsaal und hat uns das Stück genau erklärt: Wie ist es gemeint und wie ist es auszuführen. Das war eine große Hilfe.

 „Mädchen mit den Schwefelhölzern“: Der Chor ist auf der Bühne gar nicht zu sehen. Foto: A.T. Schaefer

„Mädchen mit den Schwefelhölzern“: Der Chor ist auf der Bühne gar nicht zu sehen. Foto: A.T. Schaefer

Vor einigen Jahren stand „Fremd“ von Hans Thomalla auf dem Spielplan. Thomalla kam tatsächlich vorher und ließ sich von jedem Chorsänger vorsingen: Wie ist sein Stimmumfang, wo sind seine Vorlieben, was kann er, was kann er nicht? Danach hat er wirklich relativ personenbezogen komponiert, sangbar und merkbar. Das sind aber eher die Ausnahmen.

Ein weiteres Stück in den letzten Jahren war „Peter Pan“, eine Komposition von Richard Ayres. Da gab es große Reibereien mit dem Damenchor, weil es so unsangbar komponiert war. Und die Partie der Chorbässe war eigentlich vom Stimmumfang für Tenöre gesetzt. Da sagen wir: am Thema schlichtweg vorbei.

O&T: Welche Herausforderungen für den Chor gibt es noch in solchen Werken?

Wand: „Peter Pan“ hat Spaß gemacht, ist eine Familienoper. Aber Stücke wie „Fremd“ oder „wunderzaichen“ sind eher anstrengend. Dazu kommt, dass diese Werke für die Stimme nicht nur gut sind, weil man eben keine Töne mehr produziert, sondern Geräusche, auch harte Geräusche, Einatmen, lautes Ausatmen und so weiter.

„Unser Ziel ist immer, dass man die Dinge, die wir als Probleme sehen, vom Publikum fernhält.“

Czerny: Das größte Problem ist, dass diese Stücke so unglaublich viel Zeit in Anspruch nehmen, bis man sie gelesen, studiert und im Kopf hat. Oft fangen wir weit über ein Jahr vor der Premiere an zu studieren. Wenn wir aber so früh anfangen, müssen wir mit unzulänglichem Notenmaterial arbeiten, weil die Komponisten das Werk noch gar nicht fertig komponiert haben. Da stimmt dann vieles noch nicht. Es wird wahnsinnig viel improvisiert, bis wir ein paar Wochen vor der Premiere so weit sind, dass das Notenmaterial stimmt, dass alles abgeglichen ist, dass jeder weiß, was er zu tun hat.

O&T: Würden Sie die zeitgenössischen Werke denn am liebsten ganz vom Spielplan streichen?

Wand: Nein, ich finde, das gehört zu unserer Arbeit. Man kann nicht immer nur Bellini und Verdi und Gounod singen. Das ist auch langweilig. Das Zeitgenössische gehört einfach dazu, gerade bei einem so großen Chor, in einer so großen Stadt. Unser Theater ist bekannt für die zeitgenössischen Werke, der Chor hat seine Preise dafür bekommen.

O&T: Eben: „wunderzaichen“ ist beim Publikum sehr gut angekommen. Beim „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wurde gerade der Chor mit Lob überschüttet. Ist das eine Art Kompensation für Sie?

Czerny: Wenn es beim Publikum so ankommt, dann können wir auch zufrieden sein. Dann müssen wir unsere persönlichen Affinitäten zurückstellen. Wichtig ist, dass das Publikum damit etwas anfangen kann. Dann leben wir auch mit dem, was es uns schwer macht.

Wand: Dann ist der Aufwand auch gerechtfertigt.

Czerny: Wir haben schließlich auch einen Kulturauftrag. Wir können uns dem nicht verschließen und sagen: Wir machen nur Operetten und klassische Opern, dann sind wir zufrieden. Das gehört durchaus in so einen Spielplan hinein. Die Frage lautet aber: Wie kann man das von Anfang an so organisieren, dass nicht so viel Zeit verloren geht?

O&T: Haben Sie den Umgang mit solchen Partituren, die ja keine klassischen Notenbilder mehr darstellen, in der Ausbildung gelernt?

Wand: Ja, durchaus. Aber man braucht auf jeden Fall eine Legende. Jeder Komponist verwendet eigene Zeichen, die uns erklärt werden müssen. Dann können wir auch damit etwas anfangen.

O&T: Sehen Sie auch hinsichtlich der Inszenierung Unterschiede, wenn es um zeitgenössische Werke geht – gerade für Sie als Chor?

Czerny: Die Inszenierungen sind für uns letzten Endes kein Problem. Was wir allerdings merken, ist, dass sie sich oft auch danach richten müssen, wie wir das auswendig auf der Bühne präsentieren können. Da müssen Regisseure tatsächlich in ihren Ideen Abstriche machen. Bestimmte Dinge können wir einfach nicht machen, weil sonst der ganze Laden auseinander fliegt. Für den Regisseur ist es möglicherweise zum Beispiel unbefriedigend zu wissen, dass die Leute damit beschäftigt sind, sich auf einem Monitor zurechtzufinden anstatt das, was er sich für die Inszenierung vorstellt, auf die Bühne zu bringen.

O&T: Machen die Regisseure das denn? Es gibt ja durchaus auch Regisseure, die die Anforderungen des Chores nicht unbedingt beachten.

Wand: Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Zwangsläufig werden die Inszenierungen sehr statisch. Wenn wir zum Beispiel einmal von der linken Seite auf die rechte Seite gehen sollen und dabei nicht nach vorne gucken können, sind wir schon rettungslos verloren.

O&T: Das hört sich an, als sei eine solche zeitgenössische Aufführung noch anstrengender als eine des klassischen Musiktheaters.

Czerny: Ja. Was uns viel Kraft kostet an so einem Opernabend, ist die unendlich hohe Konzentration. In der klassischen Musik können Sie sich auch mal ein bisschen fallenlassen, auf die Musik einlassen. Man schwingt sich ein. Die Schwierigkeit an diesen zeitgenössischen Werken ist, dass Sie keine Anhaltspunkte haben. Wenn eine Stimme im Fünfvierteltakt singt, die nächste im Dreihalbetakt, dann fängt man an, nur noch zu rechnen und ist so hochkonzentriert, dass man nach zwei Stunden Oper manchmal genauso geplättet von der Bühne geht wie nach fünf Stunden „Lohengrin“.

Wand: Am Ende einer Oper, zum Beispiel nach einem schönen Verdi, bin ich glücklich. Im Zeitgenössischen beschränkt sich das Glücksgefühl oft auf den Gedanken: Gut, ich habe nur so und so viele Fehler gemacht.

Czerny: In unserem Beruf versuchen wir ja, die Stücke jeden Abend so fehlerfrei wie möglich auf die Bühne zu bringen. Aber im Grund weiß jeder bis hin zum GMD, dass sich in diesen Stücken Fehler einschleichen. Auch dem GMD passiert das. Dann ist man hinterher einfach mal frus-
triert, wenn man es wieder nicht fehlerfrei hinbekommen hat.

O&T: Was glauben Sie denn, wieviel von diesen Problemen beim Publikum ankommt?

Czerny: Hoffentlich wenig. Das ist ja unser Ziel, dass von diesen Problemen am Ende nichts sichtbar ist. Für die Zuschauer ist wichtig, dass das Stück gut über die Bühne geht, dass sie das Stück, die Inszenierung, die Musik verstehen. Unser Ziel ist immer, dass man diese Dinge, die wir als Probleme sehen, vom Publikum fernhält.

O&T: Als VdO-Verantwortliche haben Sie viele Kontakte zu Kollegen an anderen Häusern. Ist es dort ähnlich?

Czerny: Ja, an anderen Theatern gibt es oft ähnliche Probleme. Ich weiß es von Hamburg, als man dort „Schwefelhölzer“ 1997 uraufgeführt hat, oder von Mannheim, als dort „Böse Geister“ von Andrea Hölszky ebenfalls uraufgeführt wurden – dafür ist der Mannheimer Chor immerhin „Chor des Jahres“ geworden. Dort wurde sogar die VdO um Hilfe gebeten, mit dem Chor, der dortigen VdO-Vertretung und der Intendanz zu sprechen, um die Probleme auszuräumen (schlechtes, schwer lesbares Notenmaterial, wenig Zeit zum Studieren etc.). Das Ergebnis war, dass neues Notenmaterial bereitgestellt wurde, dass man den Kollegen auch mehr Zeit eingeräumt hat, dass man das aber am Ende genauso gehandhabt hat wie bei uns: Der Chor wurde teilweise mit Noten und Taktmonitoren in den Zuschauerraum gesetzt.

O&T: Wie erleben Sie denn – unabhängig von allen Problemen – diese neuartige Musik?

Czerny: Was uns auffällt, ist, dass diese Musik unglaublich intellektuell ist und wirklich nur noch vom Kopf verarbeitet wird. Das Ganze wirkt oft ein bisschen seelenlos. Da geht etwas verloren, und das ist schließlich auch das, was uns auf der Bühne fehlt, um das Stück dann gut umsetzen zu können. Es gibt Stücke, die einen emotional gar nicht mehr berühren, weil der Kopf auf 180 Prozent arbeitet, und der Rest ist dann ausgeschaltet. Das ist unbefriedigend.

Wand: Ich habe ja sogar beim „Wozzeck“ erlebt – und das Stück ist fast hundert Jahre alt –, dass Leute während des Stücks rausgegangen sind. Es ist schon so, dass die Menschen nicht mehr mitkommen mit ihren Hörgewohnheiten. Da frage ich mich: Warum fällt den Komponisten nicht mal etwas Neues ein, eine neue Tonsprache, die uns alle mitnimmt? Das sehe ich einfach nicht. Es muss gar nicht gefällig sein. Aber ich würde mich freuen, wenn da mal ein Kracher käme, einer, der interessant und hörbar ist.

Czerny: Die „Schwefelhölzer“ damals, das war ein Stück, wo wir am Ende zufrieden von der Bühne gegangen sind, wenn wir es geschafft und gut hinbekommen hatten. Aber es gibt auch zeitgenössische Werke, bei denen man diese Zufriedenheit nicht unbedingt hat. Es gibt ganz gewaltige Unterschiede in der Qualität der zeitgenössischen Musik. Das gab es in der Musikgeschichte aber natürlich zu allen Zeiten. Wir können uns letzten Endes schwer anmaßen zu sagen: Das ist gut oder schlecht, wir können nur über unsere Schwierigkeiten berichten. Entscheiden muss das Publikum.

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