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„... über die Grenzen“

Musiktheater bei der Münchener Biennale · Von Reinhard Schulz

Als der künstlerische Leiter der Münchener Biennale Peter Ruzicka den Leitgedanken „...über die Grenzen” ausgab, hatte er wohl im Sinn, den derzeitigen Erstarrungstendenzen neuer Musikproduktion entgegenzuwirken. Er denkt an das Projekt einer „Zweiten Moderne”, das dem postmodernen Fortschrittszweifel wieder emphatisch zielgerichtete Tendenzen entgegensetzt. Hin zu neuen Visionen, Entwürfen eines neuen Menschenbilds.

Die mit Werken beauftragten Komponisten waren in dieser Hinsicht mit Bedacht ausgewählt. Claus-Steffen Mahnkopf, Jahrgang 1962, ist schon seit vielen Jahren als eloquenter Vertreter einer neuen Komplexität bekannt. Vehement denkt er musikalische Kunst voran, teils mit rigorosen Seitenhieben auf kompositorische Richtungen, die ihm nicht genehm sind. Die jüdische Komponistin Chaya Czernowin sucht immer mit avancierten Mitteln existenziellen Problemen der Menschheit nachzugehen, sich ihnen zu stellen und Ebenen ihrer Wahrnehmung oder Empfindung aufzudecken. Und mit der Gemeinschaftskomposition von sieben jungen, in Hamburg studierenden Komponisten sollte schließlich ganz jungen Musikern zwischen 25 und 30 Jahren die Möglichkeit zu theatraler Erprobung eröffnet werden. Nun lässt sich freilich der Schritt über die Grenzen nicht befehlen. Genauso wenig wie sich das Gelingen eines Werks befehlen lässt. Und zwischen beiden scheint ein Zusammenhang zu bestehen. Denn Indiz jedes Gelingens in künstlerisch bedeutendem Sinne ist per se die Grenzüberschreitung. Und andererseits bleibt das Tangieren von Grenzen, dem die Potenz des Gelingens nicht gegeben ist, kaum mehr als eine einfache Grenzverletzung.

Angelus Novus

Am hohen Anspruch gescheitert: So wäre wohl Claus-Steffen Mahnkopfs Musiktheaterversuch „Angelus Novus” über das gleichnamige Bild von Paul Klee beziehungsweise über Walter Benjamins 9. Geschichtsthese (die von Klees Bild inspiriert ist) zu charakterisieren. Gemeinsam war übrigens allen diesjährigen Produktionen das Fehlen eines Handlungsstranges, ja weitgehend von Text als semantischem Träger des theatralen Fortgangs. Hierin waren sich alle Komponisten wohl einig: Musiktheater, das neue Perspektiven setzen will, kann nur noch schwer im Rahmen tradierter Librettoästhetik verweilen.

   

T. Darchinger, R. Geiersberger.
Foto: Rabanus

 

„Angelus Novus” also: Die Geschichtsthese spricht vom Zurückweichen des Engels, der mit dem Gesicht nach hinten vom Wind des Fortschritts in die Zukunft geblasen wird. Und der entsetzt zurückblickt auf alle Katastrophen, die als Reste des Fortschritts auf der Bahn der Geschichte bleiben. Kann man so einen Vorwurf, eine theoretische Erwägung, einen Gedankenanstoß zu einer theatralen Aktion machen? Schwer zu sagen, vor allem auch nach Mahnkopfs Projekt. Hier freilich lief manches aus dem Ruder. Zunächst einmal verkürzten Mahnkopf und sein Regisseur, der Iraner Taygun Nowbary, die Essenz der Geschichtsthese auf fünf „menschliche Grundbefindlichkeiten”. Als da sind: Angst, Freude, Hoffnung, Trauer/Schmerz, Verzweiflung. Das wohl erblickt der Engel beim Zurückschauen. Psychologisch ist das freilich in dieser rüden Gerafftheit nur wenig interessant. Hieran setzte Mahnkopfs formale Idee der Verschränkung heterogener Formteile an. Stücke für Stimme und Ensemble wurden unterbrochen von Instrumentalsätzen – solistisch, kammermusikalisch, eine Kammersymphonie.

Diese Teile werden („multiperspektivisch”) ineinander verschränkt und geben immer wieder der Gesangsstimme freien Raum zur Schilderung der Grundbefindlichkeiten. Fraglich ist schon, dass Mahnkopf für die Instrumentalteile Werke heranzog, die allenfalls mittelbar mit dem theatralen Projekt zusammenhängen – obwohl manch kompositorisch Nachdrückliches darunter zu finden war (Kammersymphonie, Stück für Piccolooboe und Ensemble). Noch problematischer aber wirkte der Gestus der Gesangsstücke. Trotz extrem avancierter Techniken (souverän Monika Meier-Schmid) blieb das Ausdruckspotenzial fatal in herkömmlicher Charakteristik hängen. Antiquierte Ausdruckshaltung paarte sich mit ins betont Avantgardistische getriebener Technik und Formanlage – was letztlich nicht aufging.

Und dann noch ein Bruch: Die Ausfälle Mahnkopfs gegen solche Postmodernismen, in denen nur eigene schöpferische Impotenz anklängen, müssten sich eigentlich zielgenau gegen den eigenen Regisseur richten – mit dem jahrelang debattiert worden war! Denn Nowbary bebilderte die Szenen im besten postmodernistischen Sinn mit Filmzitaten und gespielten Mann-Frau-Kind-Szenen. Da wurde nur noch gedoppelt und „beliebig” Eisenstein oder Chaplin in dominierenden Bildsequenzen eingestreut. „Musik mit Bildern”, wie sie etwa Lachenmann im „Mädchen mit den Schwefelhölzern” vorschwebte, war das jedenfalls nicht. Die Reize gingen ins Breite, wo sie in die Tiefe hätten steuern müssen. So musste das Projekt, nicht zuletzt aufgrund des hohen Anspruchs, den es selbst aufstellte, in mehrfacher Hinsicht als gescheitert bezeichnet werden.

Pnima ... ins Innere

Glücklich anders dann Chaya Czernowins „Pnima ... ins Innere”. Das Stück fußt auf dem Roman „Stichwort: Liebe” des israelischen Schriftstellers David Grossman. Doch es handelt nur von einem Eindruck daraus; einem grundlegenden freilich. Ein geistig verwirrter Alter, Überlebender des Holocaust, sucht einem jungen Menschen, seinem Enkel, das Erlebte zu berichten. Der Austausch bleibt in Ansätzen stecken, das Grauen ist nicht als Erinnerung konservierbar. Um diese ebenso kargen wie tief existenziellen Grundstrukturen geht es in Czernowins Stück. Um den Transport von Information in andere Zeiten, um ihr Verwischen an den Randstellen der Übermittlung. Begegnung findet statt, aber sie kann gewisse Hürden nicht nehmen. Nicht das Berichtete ist das eigentlich Beklemmende, sondern das nicht zu Übermittelnde. Diese Situation aber ist eine eminent musikalische: Klang wird weitergegeben – aber hört ihn der andere so, wie ihn der Produzierende gestaltet? Und was ist mit einem anderen Hörer an anderer Stelle? Und was erst, wenn ihn der Hörer wieder einem Dritten weiterzugeben sucht?

Die eindringlichen Klänge Czernowins waren dieser Situation hautnah auf der Spur. Sie faltet Perspektiven des Klangs auf, schafft Nähe und Ferne, Klarheit und immer wieder Diffusion. Und über alles legte sich dann, der Eindruck verdichtete sich immer mehr, das Gefühl letztendlicher Ausweglosigkeit und Trauer. Die musikalische Zeit, obwohl die drei Stationen „Vor der Begegnung”, „Zusammentreffen” und „Verarbeitung” abschreitend, vollzieht zugleich einen Gang in die Tiefe. Erfahrung, sowohl Klang- als auch Seinserfahrung, verdichtet sich hin zur Einsamkeit jedes Einzelnen.

Das sind klare Eindrücke, die auch in der Regie wiederzugeben waren. Claus Guth und Christian Schmidt entwarfen nachhaltige, lange stehende Bilder von gelähmter Bewegung, von Lauern und sinnlosem Aneinander-Vorbei. Sie ließen der Musik Raum, unterstützten sie behutsam, gaben Richtungen vor. Ein Beispiel für ein glückliches Zusammenwirken von Musik und Regie auf der Basis handlungsloser musiktheatraler Strukturen.

Über Frauen über Grenzen

Arrogant ist, wer glaubt, dass man von den ganz jungen Komponisten nichts lernen könnte. Man kann: Zum Beispiel, dass man Kunst erst einmal machen muss, bevor über sie tief sinniert wird. Sieben Komponisten der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, die bei Peter Michael Hamel, Wolfgang Andreas Schultz oder Manfred Stahnke studieren und alle männlich und zwischen 25 und 30 Jahre alt sind, lieferten als Gemeinschaftsprojekt „Über Frauen über Grenzen“ als Abschluss-Stück bei der Biennale ab: (alphabethisch) Jörn Arnecke, Sascha Lemke, Nicki Marinic, Arvid Ong, Sean Reed, Sebastian Sprenger und Yotin Tiewtrakul.

Die Generation bringt neue Formen der Spontaneität mit. Sie kümmert sich nicht darum, was passiert, wenn der Computer fragt: „Festplatte wirklich formatieren?“, sondern drückt erst mal die Enter-Taste. Und danach erarbeitet sie sich das Rüstzeug, um die angegriffenen Programme wieder zu reinstallieren. Ähnlich ist der Umgang mit der Kunst. Von wie viel ist unser Geist heute nicht täglich umstellt: griechische Mythen in der Schule, Gewalt im Fernsehen, Lügen in der Politik, Virtuelles auf Video, Ausländerhass, Werbung, Fitness und Wellness, Talkshows, Muppets. Und an Stelle des abgelegten Kuscheltiers treten dann auch noch verwirrend die Frauen, bei denen man sich in diesem ganzen Gewirr auch noch ortend zurechtzufinden hat. Ein unaufgeräumtes Zimmer emotionaler Antriebmechanismen, in dem der Verstand hilflos herumzappt. Macht nichts, einfach alles zuerst einmal auf die Bühne! Und dort gibt es, man staunt, keinen Konkurrenzneid. Der Übervater des Projekts Peter Michael Hamel hat es geschafft – gerade mal ein Jahr stand zur Verfügung! –, dass sich die sieben Komponisten auf einen, wenn auch aufgezwirbelten thematischen Strang einigten, zu dem jeder der jungen Komponisten Facetten lieferte. Die Frage der Ausländer hatte er vorgeschlagen, das aber war den sieben Protagonisten zu eng. Frauen sollten es sein, was vielleicht Hamel wieder zu weit vorkam.

So verständigte man sich in abendländischem Konsens auf den griechischen Mythos als Basis: mit Fokus auf die Kindsmörderin Medea, auf Antigone, die rüder Männerrache das Gefühl für gleiche Behandlung entgegensetzte, schließlich noch auf Ariadne, die die Fäden der Erinnerung in der Hand hält. Ein jeder Komponist lieferte nun musikalische Schlaglichter dazu, etwa eine Viertelstunde lang. Und nun ging der Regisseur Stephan Herheim her, zerschnitt die Stücke in Teile und passte sie zu einem theatralen Puzzle zusammen.

Kreativität hatte hier großen Spielraum, zumal das Moment des unvermittelten Sprungs, eben des Zappings, als ein dem gegenwärtigen Bewusstsein selbstverständliches akzeptiert wurde. Videomontagen, von Band oder von „versteckter Kamera“ zugespielt, leimten die Versatzstücke zu virtueller (oder wirklicher?) Kohärenz zusammen. Mit kolossal angelegten Assoziationsbrücken, mit Slapstickeinlagen oder mit skurrilen Selbstläufern – Mittel, die von der medialen Eventkultur schamlos vernutzt sind, die aber, auf die Bühne gebracht, ihre Selbstkritik gleich mitbringen. Seltsam: Auch ein kritisch hörendes Bewusstsein hätte diesem Ergebnis wohl kaum exakt sieben Komponisten abgezählt (solide die Gesangssolisten und das Instrumentalensemble „Aisthesis“ unter Frank Löhr). Denn man war im Ton und in der Haltung, bei aller Differenz untereinander, zusammengerückt. Freilich ereignete sich Triviales, auch Unausgegorenes. Dennoch entstand etwas, was bei solchen Unternehmungen in der Regel misslingt: Es wurde in der Tat ein „Kollektiv-Musiktheater-Projekt“, und zwar eines, dem jegliche Schwerfälligkeit, jedes bemühte Miteinander fremd waren.

Reinhard Schulz

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