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Kulturpolitik

Kulturförderung durch Arbeitslose

Der Streik der „Intermittents“ in Frankreichs · Von Gerhard Rohde

Das französische Wort „intermittence“ bedeutet das „zeitweilige Aussetzen“ von irgendetwas. Wenn also beispielsweise jemand nach drei Monaten Arbeit die folgenden neun Monate mit der Arbeit „aussetzt“, handelt es sich um eine „intermittence“ und bei dem Betroffenen um einen „Intermittent“. Die Vokabel „Intermittents“ beherrschte in den Sommermonaten des vergangenen Jahres die Schlagzeilen des französischen Kulturlebens. Reihenweise endeten die speziell südfranzösischen Sommerfestivals schon vor der ersten Premiere – die Statistik notierte mehr als fünfzig Stornierungen. In Aix-en-Provence sagte Intendant Stéphane Lissner das Musikfestspiel ab, als trotz einer mehrheitlich gebilligten Vereinbarung mit den streikenden Artisten, Bühnenarbeitern und -technikern die Premiere von Verdis „La Traviata“ von einem harten Kern der Streikenden mit Lärmen, Falschsingen und Knallfröschen empfindlich gestört wurde. In Avignon zerrte der unentwegt verschobene Spielbeginn an den Nerven der Akteure, und für manche der vielen kleineren Theatergruppen, die Jahr für Jahr in Avignon um künstlerische Aufmerksamkeit kämpfen, dürfte sich nach der Absage des Festivals die nackte Existenzfrage gestellt haben.

Arbeit ohne Honorare

 
 

Kampf gegen Knallfrösche: Intendant Stéphane Lissner musste das Musikfestival in Aix-en-Provence kurzfristig absagen. Foto: Oswald

 

Wer die tieferen Gründe für den Streik verstehen will, muss das System der „Intermittence“ kennen. Der historische Ursprung reicht dabei in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück, wo die Volksfront für die Filmindustrie und deren Beschäftigte Regeln für eine Arbeitslosenentschädigung einführte. Nach dem Krieg erstritten Jean Vilar und Gérard Philippe für die Theaterkünstler ähnliche Verbesserungen. Alles hielt sich in vernünftigem und bescheidenem Rahmen. Die ständig zunehmende Expansion des gesamten Kulturlebens führte das System dann besonders in den letzten zwei Jahrzehnten ad absurdum. Zuletzt galt für die freiberuflichen Künstler und Techniker an Frankreichs Theatern die Regelung: Wer 507 Stunden im Jahr arbeitet, erwirbt dadurch ein Anrecht auf zwölf Monate Arbeitslosengeld. Mit dieser Zuwendung konnten die dreißigtausend freiberuflichen Schauspieler, Musiker, Tänzer, Bühnenarbeiter, Film- und Fernsehtechniker ihre Arbeit fortsetzen. Mit anderen Worten: Da die Theater, Festivals oder Rundfunk-/Fernsehanstalten den freien Mitarbeitern nach den besagten 507 Arbeitsstunden keine Honorare mehr zu zahlen brauchten, benötigten sie auch insoweit keine staatlichen Subventionen mehr. Das heißt also: die Fortsetzung der künstlerischen Arbeit wurde aus der Arbeitslosenversicherung bezahlt – ein eigentlich unmöglicher Zustand, weil das Geld für diese Versicherung schließlich von der gesamten arbeitenden Bevölkerung aufgebracht wird, zur alleinigen Absicherung der Solidargemeinschaft, nicht für die Kulturförderung.

Provinz-Kultur

Ein Vergleich dieses Systems mit unseren Subventionsstrukturen ist kaum möglich. Unsere Opernhäuser und Theater, selbst die kleinsten Bühnen und ebenso viele freie Ensembles in den Städten sind bei allen Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand immer noch leidlich in ihrer Existenz abgesichert. In Frankreich können sich nur die großen Nationaltheater, die kulturellen Zentren im Land, die festen Orchester finanziell einigermaßen geborgen fühlen. Von den unzähligen Freien Truppen erhält nur vielleicht ein knappes Drittel eine mehr oder weniger bescheidene Unterstützung, dem größeren Rest bleibt keine andere Wahl, als mit dem Arbeitslosengeld der „Intermittents“ über die Runden zu kommen. Dabei fällt gerade den Freien Gruppen die wichtige Aufgabe zu, in der, im Gegensatz zu Deutschland, viel weiträumigeren französischen Provinz, oft fern vom Ballungszentrum Paris, für eine Art kultureller Grundversorgung einzustehen. Mit dem Thema der „Intermittents“ und deren Streiks sind sehr eng also zugleich grundlegende kulturpolitische Fragen verknüpft.

„Freie“ Chauffeure

Dass die Institution der „Intermittents“ gerade im letzten Festspielsommer zur Reizvokabel avancierte, ist auf die auch und gerade in Frankreich verschärfte wirtschaftliche Notsituation zurückzuführen. In solchen Momenten schauen bedrängte Politiker und Finanzminister eben genauer in ihre Bilanzen und Statistiken, und da konnten sie schnell feststellen, dass mit den „Intermittents“ mancher Missbrauch inszeniert worden ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Mancherlei Hilfspersonal in der Kulturindustrie wurde als „Intermittents“ gemeldet, Sekretärinnen, Chauffeure, sogar Friseure. Angestellte verwandelten sich flugs in freie Mitarbeiter, vor allem die Fernsehanstalten entwickelten dabei viel unternehmerische Phantasie, indem sie die Arbeitslosengelder bereits in die jeweiligen Verträge mit den freien Mitarbeitern einfügten. Alle scheinen damit zufrieden gewesen zu sein, und die Politik bedeckte die misslichen Praktiken mit dem Mantel des Schweigens, falls sie diese überhaupt gekannt hat. In den letzten zehn Jahren soll sich die Zahl der gemeldeten „Intermittents“ auf 130.000 verdoppelt haben. Hunderttausend von ihnen beziehen pro Jahr und Kopf etwa achttausend Euro. Andere Quellen nennen hunderttausend „Intermittents“, von denen dreißigtausend Geld erhalten, das ist im allgemeinen Wirrwarr auch schon fast egal. Das Defizit der Arbeitslosenkasse bei den „Schauspielern“ hat sich jedenfalls auf achthundert Millionen Euro gesteigert. Das konnte nicht so weiter gehen. Eine Reform musste her: Mehr Arbeitsstunden über die bisherigen 507 hinaus und für weniger Berechtigte, außerdem gekürzte Zuwendungen und eine kürzere Laufzeit für die Unterstützung. Obwohl in den Verhandlungen Interessenvertreter, Regierung und auch Gewerkschaften den neuen Vereinbarungen zugestimmt hatten, verweigerten die „Intermittents“ ihr Placet, zumal ihre größte Gewerkschaft an dem Beschluss nicht beteiligt war. Die Zeche der flächendeckenden Bestreikung der Festspiele jedenfalls mussten nicht nur die Veranstalter, die Hotellerie, Gastronomie, die Theater und das Publikum bezahlen, sondern in noch nicht überschaubarem Maße auch das französische Kulturleben selbst.

Beispiel und Mahnung

Den großen Festivals in Aix-en-Provence und Avignon wird wohl vom Staat finanziell unter die Arme gegriffen, um die aufgerissenen Etatlöcher zu stopfen. Erste Zahlungen sind bereits erfolgt. Aix hat auch schon sein Festspielprogramm für 2004 veröffentlicht. Was mit den vielen kleinen Theater- und Musiktruppen geschieht, wird man vielleicht irgendwann einmal einer Statistik entnehmen können, dann, wenn alles zu spät ist. Für das deutsche Kunst-, Musik- und Theaterleben aber bieten die desaströsen Vorgänge im Nachbarland reiches Anschauungsmaterial: Wenn sich das Kulturverständnis eines Landes, vor allem aber der politisch verantwortlichen Klasse, nurmehr unter ökonomischen Gesichtspunkten definiert, wenn Subventionen herablassend wie eine Spende für sozial Notleidende vergeben oder kalt und brutal gestrichen werden, dann kann das ganze System, auch in unserem Land, nicht mehr funktionieren. Kunst und Kultur in allen ihren Äußerungen und Ausformungen sind Ausdruck eines sinnhaften Lebens überhaupt, keine nette Zugabe für freie Stunden und Zerstreuung, kein Hilfsmittel für die Tourismuswirtschaft, kein Repräsentationsrahmen für eitle öffentliche Empfänge. Wenn das Nachdenken über den Aufstand der „Intermittents“ zugleich das Nachdenken über die Inhalte von Kultur, Kunst, Musik, Theater, Tanz befördern würde, in Frankreich, bei uns, überall, dann hätte der unselige Konflikt im Nachbarland wenigstens in dieser einen Hinsicht etwas Positives bewirkt.

Gerhard Rohde

 

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