Berichte
In Phasen zurück zum Repertoire
Die Hamburger Staatsoper startet »Molto Agitato« in die Saison
Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ ist eine Choroper par excellence. Die Staatsoper Hamburg hatte das Stück Regisseur Frank Castorf für die Eröffnungspremiere der Saison 2020/2021 anvertraut. Noch 2019 wäre ein Opernhaus ohne akribisch ausgefeilte Spielpläne und Jahre im voraus terminierte Engagements unvorstellbar gewesen. Nun fügen sich diese scheinbaren Selbstverständlichkeiten ein in die Reihe all der Gewissheiten, die die Corona-Pandemie pulverisiert hat.
Wer unter den neuen, ständig wechselnden Vorzeichen den künstlerischen Betrieb weiterführen will, muss mit Verordnungen und Verboten hantieren, Vokabeln wie „Aerosol“ und „Mindestabstand“ lernen und die Unsicherheit als konstituierendes Element jeglicher Planung akzeptieren. Wie geht ein großes Opernhaus damit um?
Andernorts greift man zu klein besetzten Werken des Standardrepertoires mit Unterhaltungs-, Wiedererkennungs- und Selbstvergewisserungsfaktor. Nicht so das Hamburger Leitungsduo. Intendant Georges Delnon und Generalmusikdirektor Kent Nagano haben einen unbequemen Weg gewählt und unter der Überschrift „Molto agitato“ ein denkbar diverses Programm zusammengestellt. Zu der Ouvertüre „Ankunft der Königin von Saba“ aus Händels „Salomo“ und einer Szene aus seiner Mini-Oper „Aci, Galatea e Polifemo“ gesellen sich die „Nouvelles Aventures“ von Ligeti, „Die sieben Todsünden“ von Weill und Vier Gesänge op. 43 von Brahms. Frank Castorf war an der Programmfindung beteiligt und führt Regie. Kent Nagano dirigiert, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg teilt sich auf in diverse Ensembles unterschiedlicher Besetzungsstärken.
»Man kann nicht einfach da weitermachen, wo man aufgehört hat. Wir müssen wahrnehmen, was an neuen Impulsen kommt, so dass wir einen Schritt weiter gehen können.«
„Molto agitato“ ist der italienische Ausdruck für „stark bewegt“ und stellt in der Musik eine Vortragsbezeichnung dar. Dass er aber auch in anderen Zusammenhängen passt und ganz besonders zur seelischen Verfassung der Gesellschaft seit rund einem halben Jahr, ist ein gewollter Doppelsinn. „Jeder epochale Einschnitt / jede Katastrophe zieht einen Entwicklungsschub nach sich. Denken Sie nur an das Aufkommen der Renaissance nach dem Wüten der Pest in Europa oder an die Blüte des Barock nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs“, sagt Nagano. „Man kann nicht einfach da weitermachen, wo man aufgehört hat. Wir müssen wahrnehmen, was an neuen Impulsen kommt, so dass wir einen Schritt weiter gehen können.“
Es steht nicht zu erwarten, dass Castorf die eingebauten Kanten und Brüche szenisch glätten wird. „Ich habe kein Anliegen!“, sagt der Regisseur und verweist darauf, dass Ligeti so etwas wie narrative Strukturen radikal abgelehnt habe. „Der Text der ,Nouvelles Aventures‘ hat keine semantische Bedeutung. Die Sänger spielen minutenlang mit den Vokalen, oder sie verkünden etwas sehr Wichtiges – in einer Fantasiesprache. Was Ligeti will, versteht man genauer, wenn man aufhört, nach dem Vertrauten, Fassbaren zu suchen.“
Dass sie das Publikum mit solchen Ansätzen herausfordern, dürfte den Beteiligten klar sein. Nagano ist zuversichtlich: „Unser Publikum ist sensibel für Qualität. Meine Erfahrung ist: Wenn wir die besten Stücke spielen – gleich aus welcher Epoche –, dann kommen die Leute.“
Das Ersatzprogramm für die kommenden Monate soll in drei Phasen stattfinden. Die neuen Produktionen der Phase eins – auf die Eröffnungspremiere folgen Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“
und der Schönberg-Poulenc-Doppelabend „Pierrot lunaire / La voix humaine“ – sind auf die aktuellen Bedingungen zugeschnitten: Auf der Bühne braucht jeder Sänger 20 Quadratmeter und jeder Musiker 10. In den Orchestergraben passen 20 Musiker plus Dirigent; ist er hochgefahren, sind es nur 14 Musiker. In Phase zwei will man vorsichtig zum Repertoire zurückkehren und die Inszenierungen von Mozarts „Così fan tutte“ und „Zauberflöte“ und Glucks „Orphée et Eurydice“ an die Situation anpassen. In Phase drei will das Haus ab Dezember wieder größere Besetzungen wagen, mit den Premieren von Strauß‘ „Fledermaus“ und Massenets „Manon“.
Im Zuschauerraum, er hat 1.690 Plätze, sind nach den Hamburger Corona-Regelungen bis zu 650 Personen zugelassen – theoretisch. Da aber nur jede zweite Reihe besetzt werden darf und zwischen Besuchern oder Besuchergruppen jeweils zwei Plätze freibleiben müssen, werden wahrscheinlich nur 400 bis 500 Personen Platz finden. Maskenpflicht herrscht auf allen Wegen innerhalb des Hauses bis zum Einnehmen der Sitzplätze; es werden Wartepunkte eingerichtet, Desinfektionsständer aufgebaut und zusätzliche Garderoben geöffnet. 70.000 Kubikmeter frische Luft bläst das leistungsstarke Belüftungssystem pro Stunde in den Saal. Doch da die Obergrenze der Zuschauerzahl in der jetzigen Verordnung festliegt, nützt dieses Volumen der Staatsoper nicht. Ob der Senat in absehbarer Zeit flexiblere Regeln findet, um Theatern mit geeigneter Technik höhere Besucherzahlen zu gestatten, weiß niemand. „Fahren auf Sicht“ nennt die Politik den Umgang mit dem Coronavirus. Den Kulturinstitutionen bleibt nicht viel anderes, als sich auf diesen Kurs einzulassen. Die Spielpläne werden es zeigen.
Verena Fischer-Zernin |