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Portrait

Die Klarheit der Unschärfe

Zum Tod von György Ligeti · Von Reinhard Schulz

Seine Musik hatte immer etwas mit Distanz zu tun. „Apparitions“ hieß das erst im Westen vorgestellte Orchesterwerk von György Ligeti nach seiner Flucht aus Ungarn infolge der Niederschlagung des Volksaufstandes durch sowjetische Truppen. Erscheinungen also waren gemeint, Gestalten, die wie aus dem Nebel auftauchen, Klänge, die wie aus weiter Ferne kommen. Und nicht nur im Orchesterwerk „Lontano“ wurde dieser Gedanke fortgesponnen. Auch die Distanz der Ironie, des sarkastisch schärfenden Draufblicks auf die Dinge spielte immer eine Rolle, sei es in den „Aventures“, im Metronomstück „Poème symphonique“, in den fast 25 Jahre späteren „Nonsense Madrigals“ oder auch im einen Affront setzenden Schweigevortrag „Die Zukunft der Musik“ von 1961. Und auch in den späten rhythmischen Experimenten, die exemplarisch in den Klavieretüden exponiert wurden, spielt Distanz in den Spielformen von sinnlicher Täuschung, von parallel verlaufenden Zeitschichten eine maßgebliche Rolle. Jetzt aber ist György Ligeti, einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, selbst in die Distanz gegangen.

Größer als gedacht

Der Tod, den er in seiner Oper als „Grand Macabre“ noch spitz und übermütig gezeichnet hatte, kam nicht überraschend. Am 12. Juni 2006 ist György Ligeti in Wien nur etwa zwei Wochen nach seinem 83. Geburtstag (er wurde am 28. Mai 1923 im siebenbürgischen, heute zu Rumänien gehörenden Dicsöszentmárton geboren) nach ständigem Niedergang seiner Kräfte gestorben.

 
Hinterlässt ein großes Loch: György Ligeti. Foto: Charlotte Oswald
 

Hinterlässt ein großes Loch: György Ligeti. Foto: Charlotte Oswald

 

Man wusste über Jahre von dem Loch, das sein Weggang reißen würde, jetzt aber stehen wir vor ihm und es ist größer als gedacht. Denn wieder hat die Musik eines der großen Korrektive, die die kompositorische Nachkriegsgeneration darstellte, verloren. Ligetis schöpferisches Denken hat der Musik eine in den 50er- und 60er-Jahren selbst verordnete Enge genommen, ohne je das Gebot der Differenzierung und der strukturellen gedanklichen Schärfe in Frage zu stellen, was teilweise von der nachdrängenden jüngeren Generation als Heilmittel propagiert wurde.

Jeder Komponist, der im Gedächtnis der Menschen bleibt und zu bleiben verdient, hat Musik auf ganz neue Art gedacht: so wie keiner vor ihm oder neben ihm in Musik dachte, wenn sich auch ein Bündel von Strängen in die Tradition festmachen lässt. Denn das Neue ist einzig neu in Abgleichung zum Hergebrachten, an dessen Grundfesten gerüttelt wird – nicht zuletzt auch in der Absicht, die Standfestigkeit des großen Baus der Musik zu erhöhen. Immer hat György Ligeti so gedacht, misstrauisch beäugte er von Anfang an, und hier ist insbesondere sein „zweiter“ Anfang 1956 gemeint, die Leichtfertigkeit, mit der manche Komponisten den totalen, traditionsfreien Neuanfang proklamierten.

Es war Ligeti gegeben, in geradezu stürmischer Eloquenz zu erklären oder besser zu verdeutlichen, worum es ihm in seiner Musik ging. Das waren keine abgehobenen Konstrukte, sondern Dinge, die direkt aus dem Leben kamen. Und es war viel, so gut wie alles interessierte ihn, entzündete seinen musikalischen Geist.

Überspitzung der Musik

Das begann schon in der ungari-schen Phase, als er zusammen mit György Kurtág auf die Wiederkehr von Bartók als Lehrer vergeblich wartete und nach dessen Vorbild aufs Land zu Volksmusikstudien zog. Schon da wollte er nicht allein folkloristische Studien betreiben oder Bearbeitungen anfertigen. Es ging ihm um Überspitzungen von Eigenarten dieser Musik, die das Wesen kenntlicher machten. Hier schon mag er das Phänomen der Unschärfe beobachtet haben, die nicht immer klaren Fixierungen der Tonhöhe, das Phänomen des improvisatorischen Verschleifens, den Reiz der Reibung beim Zusammenspiel, die rhythmischen Flexibilitäten.

Das ließ ihn sein Leben lang nicht los. Ligeti beschäftigte sich mit Unschärferelationen in der Physik, die über die Philosophie auf das ganze menschliche Denken übergriffen, er eignete sich Aspekte von Chaos- und Fraktaltheorien an, er entdeckte Bezüge seines Denkens zu rhythmisch hochkomplexen Musikformen zentralafrikanischer Pygmäen, zu Conlon Nancarrow, aber auch zu den Ansätzen der amerikanischen Minimal Music, gegenüber der die Kollegen oft nur die Nase rümpften. Er studierte mit geradezu kindlich frischem Blick das Verhältnis von Fingern und Tasten auf dem Klavier und entwickelte daraus verblüffende Brechungen von Rhythmus und Metrum mit Täuschungsmanövern, wie wir sie aus Bildern von M.C. Escher her kennen. Nichts gab es, das nicht irgendwie sein Interesse anstachelte, und wer Ligeti auch nur einmal bei der Erklärung seiner Musik (er tat das im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten gerne und mit dem Eros pädagogischer Begeisterung) beobachtete, war vom überbordenden Elan und den sich spinnenförmig verzweigenden Assoziationen überwältigt. Immer hatte man dabei den Eindruck, dass Ligeti mit seinen Gedanken mitten im Zentrum der Dinge steht, dass sie ihn in allen Fasern der sinnlichen Präsenz in Beschlag nahmen. Und es waren Dinge, die uns alle angehen, da sie auf unser Verhältnis zur Welt, auf die Bewusstseinsformen unserer immer beschränkt bleibenden Wahrnehmung rekurrierten. Erkenntnis, das hieß für ihn auch die Analyse unserer durch die Grenzen von Sinn und Geist beschnittenen Kontakte zur Welt und ihren Erscheinungsformen.

Ligeti hat auf diese Weise der Musik die Qualität der Neugier zurückgegeben, wie wir sie vielleicht von den isorhythmischen Versuchen eines Machaut oder von Haydns motivischen Laboranordnungen her kennen: also nicht nur hören auf das, was geschieht, sondern ausprobieren, wie es sich zu störenden oder widerstrebenden Momenten verhält. Das Eigenwillige dieses Ansatzes und vor allem die Wucht der Klarheit, mit der sich einer Fragestellung genähert wurde, ist schnell erkannt worden. Mit seinem Orchesterwerk „Atmosphères“ hatte er 1961 das Donaueschinger Publikum zu Jubelstürmen bewegt, das von der klanglichen Emphase und der Direktheit des farbigen Orchesterrauschens überwältigt war. Diesen Weg einer differenzierten Clusterkomposition (also die räumliche Füllung eines Klanges durch alle dazwischen liegenden Halbtöne oder auch durch die Töne einer Skala) setzte Ligeti in den folgenden Werken fort – eine Entwicklung, die im gewaltig aufgefächerten, die ganze Geschichte der Totenmesse reflektierenden Requiem (1963–65) oder in der subtilen, ganz stillen und wie von weit her kommenden Orchesterkomposition „Lontano“ (1967) gipfelte.

Markenzeichen

Ligeti war ein viel zu unruhiger, viel zu nervös den Phänomenen nachlauschender Komponist, als dass er sich nun mit diesem Handwerkszeug beschieden hätte. Die Mikropolyphonie enger Tongewebe war Ende der 60er-Jahre bereits zu einem Markenzeichen Ligetis geworden. Gerade solche Vorfixierungen aber liebte Ligeti nicht, Routine war ihm der Tod jeglichen schöpferischen Bestrebens. Andere Aspekte traten nun in den Vordergrund seines musikalischen Denkens. Fragen der ironischen Karikatur (zum Beispiel in den zehn Stücken für Bläserquintett von 1968, aber auch schon davor in den „Aventures“, dann in der großen Oper „Le Grand Macabre“ von 1974 bis 1977), der Grauzonen zwischen Sense und Nonsense, von rhythmischen Patterns (etwa im Cembalostück „Continuum“, ebenfalls 1968), aber auch eine differenziertere Behandlung von melodischen und harmonischen Strukturen wurden bedeutsam. Stets freilich suchte Ligetis Musik immer wieder aus ganz verschiedenen Blickwinkeln Momente der Unschärfe, der Verwischungen, der Differenz von Deutlichkeit und Undeutlichkeit ins Zentrum seiner Arbeiten zu stellen (und was trifft unser heutiges Bewusstsein der Überinformation, der Erkenntnisse an allen Rändern des Daseins genauer?): Momente, die zum Beispiel als Abschattierung zwischen Tradition, Zitat und Fremdheit ins großartig enigmatische Horntrio von 1982 einflossen.

„Lux aeterna“ heißt sein bekanntestes Chorwerk und dieses ewige Licht scheint sein ganzes Schaffen mit einem milden, rätselhaften Glanz zu erfüllen. Seine letzten großen orchestralen Arbeiten, insbesondere das Klavierkonzert (1985/86) und das Violinkonzert (1990/92) suchten dann in groß angelegter, jeweils fünfsätziger Konzeption, eine Art Überblick über sein ganzes kompositorisches Denken herzustellen. Ligeti schaute zurück auf die Musik und die Landschaft seiner Heimat Ungarn, auf die irisierenden Wirkungen der Mikropolyphonie, auf die Turmbauten geschraubter und verkanteter Rhythmustechniken. Wer genau hinhörte, mochte hier auch den freilich ganz unsentimentalen, vor nicht nachlassender Wissensbegierde strotzenden Schmerzenston des Abschiednehmens (wie auch schon im „Les Adieux“-Zitat im Horntrio?) vernehmen. Seine kreative Unruhe, sein scharfer, von Erkenntnisdrang getragener Blick werden in der Landschaft der zeitgenössischen Musik fehlen. Keiner kann seine Position auch nur annähernd einnehmen – und das war immer so, wenn ein ganz Großer uns verließ.

Reinhard Schulz

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