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Kulturpolitik

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„Sie haben dieses einzigartige Ensemble zerstört“

Auf ein Wort mit …
Choreologin Birgit Deharde und Tänzer Kenji Takagi über das Einstudieren von Ballett und Tanztheater

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Künstliche Intelligenz
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Zwischen Komödie und Märchen
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Starker Opernabend mit Charme
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Bestenlese im Schaufenster
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Auf ein Wort mit

Eine Kombination von allem

Choreologin Birgit Deharde und Tänzer Kenji Takagi über das Einstudieren von Ballett und Tanztheater. Im Gespräch mit Stefan Moser, Rainer Nonnenmann und Gerrit Wedel

Wie bringt man historische Choreografien zur Wiederaufführung? Auf welche Quellen stützt man sich dabei? Welche Anpassungen sind unvermeidlich oder auch wünschenswert, wenn Bewegungsabläufe einst mit und für bestimmte Tänzer*innen entwickelt wurden und nun von ganz anderen ausgeführt werden sollen? Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Choreologie im klassischen Ballett und Probenleitung im modernen Tanztheater? Wer sind die Menschen, die solche Neueinstudierungen erarbeiten?

Birgit Deharde. Foto: Roman Novitzky

Birgit Deharde. Foto: Roman Novitzky

Birgit Deharde erhielt ihre Ballettausbildung an der Ballettschule des Hamburg Ballett John Neumeier. Ab 1994 studierte sie am Institute of Choreology in London. Danach arbeitete sie als Choreologin und choreographische Assistentin beim Stuttgarter Ballett und machte das Diplom als Ballettpädagogin. Bei Einstudierungen von John Crankos Balletten arbeitete sie zusammen mit Marcia Haydée, Egon Madsen und Richard Cragun. Zudem verantwortete sie die Einstudierung von Werken von Maximiliano Guerra, Christian Spuck, Liam Scarlett, Michael Corder, Cynthia Harvey und Marcia Haydée. Seit 2009 war Deharde weltweit als freischaffende Choreologin tätig und ließ sich in Indien und Bali zur Yogalehrerin ausbilden. 2019 holte sie Ballettintendant Tamas Detrich ans Stuttgarter Ballett zurück.

Kenji Takagi. Foto: Jan Möllmer

Kenji Takagi. Foto: Jan Möllmer

Kenji Takagi war bis 2008 festes Ensemblemitglied beim Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch. Seitdem ist er freischaffender Tänzer, Choreograf und Pädagoge. Er unterrichtete bei ImPuls­Tanz Wien, an der Folkwang Universität Essen, am Conservatoire National Superieur de Paris, der École de danse contemporaine de Montréal und bei Movement Research New York. Für Einstudierungen von Pina Bauschs „Das Frühlingsopfer“ war er Probenleiter an der Pariser Oper, beim English National Ballet, Opera Ballett Vlaanderen und aktuell beim Bayerischen Staatsballett München. Als Darsteller und Autor widmet sich Takagi Improvisations-Performances, sparten­übergreifenden und ortsspezifischen Projekten, unter anderem im Trio „In Another Place“ zusammen mit Cristiana Morganti und Emily Wittbrodt sowie als Mitglied der inklusiven Wuppertaler Kompanie „Pour-Ensemble“.

Oper & Tanz: Vielen Dank, dass wir dieses Gespräch mit Ihnen beiden führen können. Wie würden Sie kurz Ihre jeweilige Haupttätigkeit beschreiben?

Birgit Deharde: Meine Haupttätigkeit beim Stuttgarter Ballett ist die Einstudierung der großen klassischen, abendfüllenden Handlungsballette. Mein Schwerpunkt liegt dabei im Corps de ballet, aber ich studiere auch Solopartien ein. Außerdem schreibe ich Tanzpartituren, wenn für das Stuttgarter Ballett eine große Neukreation entsteht und man davon ausgehen kann, dass diese wiederaufgenommen wird, wie zuletzt beispielsweise der „Nussknacker“ von Edward Clug mit einer aufwändigen Ausstattung von Jürgen Rose. Diese Produktion wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich regelmäßig zu Weihnachten wiederaufgeführt.

O&T: Wieviel Arbeit macht es, eine solche Choreografie zu verschriftlichen?

Deharde: Das ist sehr unterschiedlich. Rein klassische Ballette lassen sich sehr viel schneller notieren, während man bei Contemporary immer spezifizieren muss, wenn etwa das Bein eingedreht oder der Fuß geflext ist. Das braucht mehr Zeit. Entscheidend ist auch die Komplexität und Anzahl der Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Wenn alle zur gleichen Zeit das Gleiche machen, dann ist das schnell notiert. Wenn alle aber Verschiedenes machen, dann hat jedes „Instrument“ wie in einer Orchesterpartitur eine eigene Stimme, mit zum Beispiel Location- und Richtungsangaben unter der Zeile, Musikalität über der Zeile und mit Taktstrichen, die anzeigen, was gleichzeitig stattfindet. Um Clugs „Nussknacker“ als Partitur zu notieren, brauchte ich etwa zweieinhalb bis drei Monate.

Kenji Takagi: Welche Notation benutzen Sie?

Deharde: Die Benesh Movement Notation. Da wird sehr visuell eine Pose, ähnlich wie ein Strichmännchen, in ein Fünfliniensystem gezeichnet, und dann verbindet man im Prinzip die Rahmen miteinander. Eine zweite Notationsweise ist Laban, die sich besser für modernen Tanz eignet, mit der ich mich aber nicht auskenne.

O&T: Das bekannte Figuren-Repertoire des klassischen Balletts lässt sich leichter verschriftlichen als modernes Tanztheater. Herr Takagi, worin liegt Ihr Tätigkeitsschwerpunkt?

Pina Bausch, „Das Frühlingsopfer“, die jungen Männer, mit dem Ensemble des Wuppertaler Tanztheaters Pina Bausch, v.l.n.r.: Alexeider Abad González, Jorge Puerta Armenta, Pablo Aran Gimeno, Rainer Behr, Fernando Suels Mendoza, Michael Strecker, Kenji Takagi, Damiano Ottavio Bigi, Bernd Uwe Marszan. Foto: Laszlo Szito

Pina Bausch, „Das Frühlingsopfer“, die jungen Männer, mit dem Ensemble des Wuppertaler Tanztheaters Pina Bausch, v.l.n.r.: Alexeider Abad González, Jorge Puerta Armenta, Pablo Aran Gimeno, Rainer Behr, Fernando Suels Mendoza, Michael Strecker, Kenji Takagi, Damiano Ottavio Bigi, Bernd Uwe Marszan. Foto: Laszlo Szito

Takagi: Ich bin seit 17 Jahren freiberuflich und gehe deswegen verschiedenen Tätigkeiten nach, die mit wechselnder Gewichtung oft gleichzeitig stattfinden. Ich bin selber immer noch als Tänzer und Darsteller in unterschiedlichen Produktionen auf der Bühne, meistens freie Produktionen, aber auch an festen Bühnen und in Schauspielhäusern. Oft sind dies spartenübergreifende Projekte, bei denen ich die Aufgabe übernehme, den choreografischen Input zu geben. Ich unterrichte auch zeitgenössischen Tanz, gebe viele Workshops und mache Probenleitungen. Das habe ich bisher ausschließlich bei Pina Bauschs „Sacre du printemps“ gemacht. Im Fall von „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ habe ich lediglich meine eigene Rolle anderen Tänzern weitergegeben, die dafür in Frage kamen, und dann speziell natürlich dem Tänzer, der diese Rolle wirklich übernommen hat.

O&T: Eins zu eins etwas vormachen und dann nachmachen lassen, klingt nach einem Idealfall.

Takagi: Ja, das waren Luxusbedingungen, weil viele Tänzer*innen des Wuppertaler Tanztheaters ans Bayerische Staatsballett München eingeladen wurden, um ihre eigenen Rollen weiterzugeben. Das gibt es normalerweise nicht.

O&T: Welche Quellen und Techniken der Rekonstruktion und Einstudierung bereits bestehender Choreografien nutzen Sie? Welche Rollen spielen Tanzschrift, Videoaufzeichnungen und das emotionale, mentale und physische Gedächtnis derer, die die Choreografien bereits getanzt haben?

Pina Bausch, „Das Frühlingsopfer“, die jungen Mädchen, mit dem Ensemble des Wuppertaler Tanztheaters Pina Bausch. Foto: Ulli Weiss/ Pina Bausch Foundation

Pina Bausch, „Das Frühlingsopfer“, die jungen Mädchen, mit dem Ensemble des Wuppertaler Tanztheaters Pina Bausch. Foto: Ulli Weiss/ Pina Bausch Foundation

Deharde: Ich nutze eine Kombination von allem, wobei ich mich sehr eng an die Tanzpartitur halte. Videos verschiedener Aufführungen sind oft sehr unterschiedlich, oft auch zu dunkel, so dass man gar nicht richtig sieht, was auf der Bühne passiert. Bei Marcia Haydées „Dornröschen“ gibt es beispielsweise eine Szene, da wird die Carabosse in einem riesigen schwarzen Seidenmantel auf die Bühne getragen, der von sieben Tänzern bewegt wird. Da sieht man auf dem Video gar nicht, wer wo was macht, hält und greift (um diesen Charakter dann heruntergleiten zu lassen). Wenn ich zum ersten Mal eine Einstudierung mache und mir dazu eine Choreografie rein aus der Partitur aneignen muss, dann sind bei den Balletten von Cranko Gespräche mit seinen „Musen“, die noch leben und zu denen ich einen sehr engen Draht habe, natürlich Gold wert. Wenn jemand erzählen kann, was Cranko mit dieser Rolle wollte oder welche Gefühle oder Charaktere er porträtieren wollte, dann geht es mehr um das Warum und Wie der künstlerischen Feinheiten. Was das Skelett der Bewegungen betrifft, gehe ich aber ganz stark auf die Partitur zurück.

Takagi: Neben den bereits genannten Quellen kommen, wie Frau Deharde sagte, noch Hintergrundinformationen von Choreografen und damaligen Mitwirkenden hinzu, die wichtig für das Verständnis eines Stücks sind. Wichtig ist auch das eigene Schauen, das Sehen einer Aufführung von außen. Ich selbst kann nicht im Allgemeinen über Vermittlung sprechen, sondern nur speziell über die Einstudierung von „Sacre“. Da läuft bei mir sehr viel über das eigene Kennen der Choreografie.

Bilder S. 10/11: John Cranko, „Schwanensee“ mit dem Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

John Cranko, „Schwanensee“ mit dem Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

Weil ich diese Produktion selbst getanzt habe, vermittle ich sie mit dem eigenen Körper und dem Gedächtnis der Bewegungsabläufe, das ich in meinem Körper habe. Ich zeige sehr viel in den Proben, weshalb ich gerade starken Muskelkater habe. Ich demonstriere etwas und analysiere aber auch verbal. Wir arbeiten immer zu mehreren im Team. So können wir gegenseitig die Erinnerung über bestimmte Details auffrischen, und die Tänzer*innen bekommen unterschiedlichen Input von mehreren, die das Stück schon getanzt haben. Auch eigene handschriftliche Notizen und Videos nehme ich zur Hilfe. Von Pinas Arbeiten gibt es Regiebücher, aber keine klar kodifizierten Tanzpartituren nach Benesh oder Laban. „Sacre“ wird ja seit 50 Jahren getanzt und hat sich auch unter Pinas Leitung immer wieder verändert, weil sie Dinge abgewandelt hat, so dass es von manchen Bewegungen unterschiedliche Versionen gibt.

O&T: Pina Bausch oder John Cranko haben ihre Choreografien in intensiver Zusammenarbeit mit und für bestimmte Tänzer*innen erarbeitet. Welcher Anpassungsspielraum ergibt sich daraus für die Wiedereinstudierung? Jeder Mensch hat ja einen anderen Körper mit anderer Fähigkeit, Ausstrahlung, Aura.

John Cranko, „Schwanensee“ mit dem Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

John Cranko, „Schwanensee“ mit dem Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky

Takagi: Tanz ist eine lebendige Kunstform, bei der wir Menschen auf der Bühne sehen. Wir sehen Menschen, die hier und heute leben und die sind, wer sie sind. Wir wollen diese Menschen sehen und nicht, dass sie jemanden imitieren, der sie gar nicht sind. Dafür liefert die Choreografie von „Sacre“ einen klaren Rahmen, von dem wir aber hoffen, dass die Tänzerinnen und Tänzer ihn benutzen, um bei sich selbst etwas passieren zu lassen, damit sie am Ende auch sie selber auf der Bühne sind. Wir respektieren die Choreografie und suchen gleichzeitig zusammen mit den Tanzenden einen Weg, damit sie sich eine Bewegung mit ihrer eigenen Individualität aneignen. Deswegen ist jede Aufführung von „Sacre“ anders, auch wenn die Choreografie festgelegt ist.

O&T: Bei klassischen Balletten mit klaren Rollen und verschriftlichten Partituren ist man vermutlich mehr an die Autorität der Werke gebunden und hat weniger individuelle Gestaltungsspielräume?

Deharde: Ja, das ist sicher der Fall. Die klassischen Ballette sind ein ganz anderer Bereich. Bei „Schwanensee“ sind die Schwäne im 2. und 4. Akt zum Beispiel nicht als individuelle Persönlichkeiten auf der Bühne, wir versuchen eher mit ihnen ein homogenes Corps de ballet zu formen. Das ist etwas ganz Anderes. – Ich kann aber sehr gut nachvollziehen, was Herr Takagi sagt und hätte auch Lust, mal so etwas zu machen. – Bei Solisten gibt es auch im Ballett mehr Spielraum als beim Corps de ballet. Auch da werden Bewegungsabläufe angepasst und die Rolle muss zur eigenen gemacht werden. Für die Gruppen gibt es aber eine Version, die wird nicht diskutiert, sondern möglichst schnell einstudiert und auf die Bühne gebracht. Wir arbeiten ja immer auch unter Zeitdruck.

Takagi: „Sacre“ ist ja ein Gruppenstück, bei dem alle oft ganz eng auf der Bühne beieinander tanzen und die Bewegungen wirklich präzise sein müssen, damit alle wie in einem Corps de ballet wirklich zusammen sind und nicht Gefahr laufen, sich gegenseitig zu schlagen. Da herrscht kein Freestyle, sondern strikte Präzision. Dennoch geht es uns darum, in den gleichen Bewegungen die Unterschiede zu sehen. Die Choreografie ist ganz klar, doch sieht eine Bewegung bei zwei Menschen immer etwas anders aus.

O&T: Ballett und Tanz haben eine starke körperlich-sportliche Dimension und zielen zugleich auf die Darstellung von Ideen, Gefühlen, Geschichten, Schicksalen. Wird beides gleichzeitig erarbeitet oder gibt es da eine bestimmte Chronologie?

Takagi: Wir gehen ins Studio und zeigen Schritte. So fängt es an. Wir zeigen sofort Bewegungen, die ich aber nicht vom emotionalen Gehalt trennen würde. Bei „Sacre“ in München arbeiten wir manchmal für die dortigen Tänzer*innen schockierend langsam. Ich sehe die Arbeit in der Tradition des Ausdruckstanzes. Jede Bewegung korrespondiert mit einem inneren Zustand, der sich in einer äußerlich sichtbaren Regung zeigt. Dies versuchen wir durch viele Wiederholungen einzuüben. Wir demonstrieren und kommentieren Bewegungen, und wir machen die Tänzer*innen darauf aufmerksam, dass in jeder Bewegung eine bestimmte Intention liegt, vielleicht ein Sich-Hin-Sehnen in eine Richtung oder ein Loslassen oder ein Sich-Schwer-Machen. Das wird nicht hinterher aufgesetzt, sondern ist gleichzeitig immer dabei.

Deharde: Viele Produktionen erfahren Wiedereinstudierungen, so dass viele Tänzer die Choreografie schon kennen. Bei einer neuen Produktion, die die Kompagnie noch nicht kennt, spreche ich zuerst über das Stück, die Rollen, die Handlung. Dann lernen wir Schritte, reine Choreografie, das Skelett. Wenn das dann alles gut sitzt und über die Bewegungsabläufe nicht mehr viel nachgedacht werden muss, kann man auch wieder auf die Interpretation zurückgehen.

O&T: Sie sprachen vom Gedächtnis des Körpers. Vermitteln Sie den Tänzer*innen auch bestimmte Memotechniken bei der Einstudierung großer Partien und komplexer Bewegungsabläufe?

Takagi: Es gehört zum Handwerkszeug von Tanzenden, dass sie durch vielmalige Wiederholungen Bewegungsabläufe und ganze Choreografien memorieren können. Bei der Einstudierung von „Sacre“ mit dem Staatsballett München ist es so, dass viele diese Choreografie wie eine neue Sprache lernen müssen, weil sie nicht dem Figuren-Repertoire des klassischen Balletts entspricht. Da ist es sehr interessant zu beobachten, wie unterschiedlich sich jeder Tänzer, jede Tänzerin das aneignet. Manche können besser imitieren, was man ihnen vormacht. Andere müssen erst einmal rational verstehen, was da abläuft und erst einmal gesagt bekommen, das ist ausgedreht, das ist vorne hoch, dann ist Plié, dann Croisé. So viele Tänzer es gibt, so viele verschiedene Weisen gibt es, sich Bewegungen anzueignen. Da gibt es kein festgelegtes Rezept, sondern jeden Tag überraschende Begegnungen mit den Tänzer*innen, durch die man selbst immer dazulernt.

O&T: Haben Sie die Zeit, um auf all diese individuell verschiedenen Lernweisen einzugehen?

Takagi: Zeit ist immer ein Problem. Im Team werden wir aber immer flexibler und effektiver, Dinge zu vermitteln.

Deharde: Ich bin seit einigen Jahren wieder fest beim Stuttgarter Ballett und kenne die Leute inzwischen relativ gut. Einige sind schneller und andere sind langsamer, das ist ok.

O&T: Sie beide hatten Festanstellungen, sind dann aber in die Freiberuflichkeit gewechselt. Was waren die Gründe dafür?

Takagi: Ich habe gemerkt, dass es nicht zu mir passt, in einem Angestelltenverhältnis zu sein. Selbst bei so einer tollen Kompagnie wie dem Wuppertaler Tanztheater habe ich einen Mangel an Selbstbestimmtheit erlebt. Es war für mich dann schon ein bisschen scary, vom Tanztheater wegzugehen und noch nicht zu kennen, was es heißt, künstlerisch freiberuflich tätig zu sein. Da hatte ich anfangs durchaus etwas Existenzangst. Aber seitdem bin ich mein eigener Chef, habe glücklicherweise viele Aufträge und Projekte, ein breites Feld verschiedener Tätigkeiten und kann selber entscheiden, ob ich etwas mache oder nicht.

Deharde: Einige unschöne Umstände haben mich damals dazu gebracht, die Kompagnie zu verlassen. Ich bin dann erst einmal zwei Jahre lang auf Weltreise gegangen, habe viele Kurse gemacht und eine Yogalehrer-Ausbildung abgeschlossen, um mir damit ein zweites Standbein zu schaffen. Dann aber kamen plötzlich lauter Aufträge für verschiedene Einstudierungen. Das lief richtig gut und wurde mir fast zu viel. Nach zehn Jahren war ich das viele Reisen, Organisieren, Planen leid, auch immer wieder neue Versionen von „Giselle“ und verschiedene „Dornröschen“ lernen zu müssen. Deswegen wollte ich wieder an ein Haus gehen, wo ich das Repertoire kenne.

O&T: Was wünschen Sie dem Stuttgarter Ballett beziehungsweise dem Tanztheater Pina Bausch für die Zukunft?

Takagi: Ich bin ja gar nicht mehr so nah dran am Wuppertaler Tanztheater. Ich finde das auch deswegen eine sehr heikle Frage, weil die Situation dort gerade wirklich schwierig ist. Wie geht man damit um, dass es eine sehr wichtige Choreografin gab, die aber nun schon seit längerer Zeit nicht mehr da ist und man sich fragen muss, wie man mit ihrem Werk heute umgeht. Was heißt das für jemanden, der hier neu dazukommt und kein Museum instand halten möchte, sondern der seine eigene Kreativität entfalten und etwas Lebendiges, Aktuelles schaffen möchte? Ich sehe einfach die Schwierigkeit dieses Dilemmas.

O&T: Ein Problem zu benennen impliziert immerhin auch den Wunsch, es möge wie auch immer gelöst werden.

Deharde: Ich schätze hier den Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung in der Kompagnie. Ich wünsche mir, dass das beibehalten wird und hoffe, dass es keine Kürzungen im Kulturetat gibt, wie jetzt schon in Berlin oder Köln.

O&T: Leider soll auch an der Staatsoper Stuttgart an allen Ecken und Enden gespart werden. Das wird dann sicher auch den Tanz betreffen. Natürlich wünschen wir auch von der VdO, dass die finanzielle Ausstattung der Opern- und Tanztheater nicht so weit geschröpft wird, dass die künstlerische Qualität darunter leidet.

Haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.


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