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Berichte

Das Trugbild der grossen Liebe

Armin Petras‘ »Anna Karenina« als Opern-Uraufführung in Bremen

Eine Frau, die aus ihrer gefühlskalten Ehe ausbrechen will – und sich der Leidenschaft mit einem anderen hingibt. Eine Leidenschaft, die endlich ist – und zwei Menschen, die den Übergang von der stürmischen Liebe in den Alltag nicht meistern können. „Anna Karenina“, das ist einer der meist adaptierten Romane der Literaturgeschichte. Fast alle Verfilmungen, Opern und Theaterstücke setzten dabei auf eine radikale Vereinfachung, nicht selten reduzierten sie Tolstois Riesen-Roman auf ein Melodram, die Geschichte vom Ehebruch der schönen Anna mit dem Verführer Wronski in einer Gesellschaft, die derartige Verfehlungen mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bestraft.

Nadine Lehner als Anna Karenina, Hubert Wild als Wronski, Nerita Pokvytyte als Kitty, Statisterie und Chor. Foto: Jörg Landsberg

Nadine Lehner als Anna Karenina, Hubert Wild als Wronski, Nerita Pokvytyte als Kitty, Statisterie und Chor. Foto: Jörg Landsberg

Nicht so die Theaterfassung von Armin Petras, die bewusst das Kaleidoskop von gleich drei Liebesgeschichten enthält, an denen Tolstoi nichts weniger als das Streben der Menschen nach dem Glück exerzierte – der Mann wusste aus eigener Erfahrung, wovon er schrieb. Petras gelingt das Kunststück, die Tolstoische Prosa auf einen in überschaubarer Zeit rezipierbaren Theaterabend zu reduzieren, indem er gar nicht erst versucht, die Geschichten nachzuerzählen, sondern Schlüsselmomente der melodramatischen Handlungen mit schnell erzählten Passagen verwebt. Er erzählt damit tatsächlich den ganzen Anna-Karenina-Stoff, nimmt sich aber die Freiheit, Landschaftsbeschreibungen und politische Reflexionen zu streichen und immer wieder Hunderte von Seiten in einem Nebensatz vom Chor erzählen zu lassen, um dann wieder einen besonderen Moment ganz nah heranzuholen und sogar noch auszudehnen.

Die Verwandlung des Petras-Librettos in eine Opern-Partitur durch Thomas Kürstner und Sebastian Vogel fügt in Bremen diesem ohnehin schon unwahrscheinlich dichten Textgeflecht noch eine musikalische Ebene hinzu. Die individuelle Suche nach dem Glück, sie findet jetzt Ausdruck in einem Klangteppich, der geschickt unterschiedliche musikalische Stilrichtungen miteinander verwebt: so unterschiedlich wie die Emotionen und Sehnsüchte der drei Paarungen, die jede für sich ein Konzept darstellen, das Leben und die Liebe zu meistern.

Nadine Lehner, Hubert Wild, Nerita Pokvytyte, Statisterie und Chor. Foto: Jörg Landsberg

Nadine Lehner, Hubert Wild, Nerita Pokvytyte, Statisterie und Chor. Foto: Jörg Landsberg

Die Regie von Armin Petras ergänzt diese komplexe Grundaufstellung um eine weitere Ebene. Petras hat auf der Bühne eine große, hölzerne Leinwand aufbauen lassen. Es kann davor und dahinter gespielt werden. Was hinten passiert und durch die Leinwand-Stützen aus dem Zuschauerraum noch grob erkennbar ist, wird aber nicht einfach eins zu eins übertragen, sondern verändert – ganz so, wie auch unser Gedächtnis Erinnerungen stetig verändert, neu sortiert und bearbeitet. Auf der Leinwand sind so ganz am Anfang Szenen von Annas (Nadine Lehner) erstem Zusammentreffen mit Wronski (Hubert Wild) auf dem Ball zu sehen, in einer schwarz-weißen Stummfilm-Patina, die verdächtig an eine der kitschigen, melodramatischen Anna-Karenina-Verfilmungen aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erinnert. Historisierend kostümierte Ballgäste tanzen Wiener Walzer dazu.

Weit weg erscheinen diese Figuren mit ihren Sehnsüchten, die dann aber im Verlauf des Abends einen erstaunlichen Verjüngungsprozess durchmachen. Sowohl in den Kostümen als auch in den Filmbildern rast Petras mit Tolstois Figuren durch die Zeiten, bis der grüne Weltverbesserer Lewin (Christoph Heinrich), ein Öko mit langen Haaren, mit der Gitarre vor einem Atomkraftwerk für sein ganz in pink gekleidetes Girlie Kitty (Nerita Pokvytyte) Hippie-Lieder spielt, bevor der notorische Ehebrecher Oblonski (Martin Baum) diesem alternativen Sing-Sang ein Ende bereitet.

Und Anna und Wronski? Die brauchen in dieser Fassung keine repressive Gesellschaft, um unglücklich zu sein: Wie ein Künstler lässt der Regisseur sie an einer Stelle posieren, als eine alte Frau die Bühne betritt. Es ist die alte Anna, die beiden kurz vor Augen führt, wie stark diese Liebe im Kern auf Äußerlichkeiten gebaut ist. Das dämmert kurz vor Annas Selbstmord auch Karenin. Er offenbart Anna, dass er Angst hat, sie nie ganz besitzen zu können – jedenfalls nicht dieses Trug-Bild einer Liebe, das jenseits der Leidenschaft wenig Substanz besitzt. Fast immer, wenn Petras ein Schlaglicht auf dieses Paar wirft, ist es auf Reisen. Beide sind ganz offensichtlich auf der Flucht – vor dem ruhigen Sofa, vor dem Blick aus der biederen Mietskaserne, deren Fenster immer wieder ganz groß auf der Leinwand zu sehen ist.

Das Ende vor dem Zug kommt dann doch ein wenig plötzlich und als große Oper daher. Bei Tolstoi endet der Roman nicht mit dem Selbstmord, sondern mit Lewin und Kitty – zwei Charakteren, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, die sich dennoch gefunden haben. Auch dieses Paar löst Petras aus der zeitlichen Verortung und zeigt es als zeitlose Glückskonstellation, die für den Augenblick zu funktionieren scheint und gerade in ihrer musikalischen Unaufgeregtheit gute Chancen auf eben jene lebenslange Zweierbeziehung hat, die zu den größten Glücksversprechen unserer heutigen Gesellschaft zählt.

Alexander Kohlmann

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