Ulrich Blum: Das hängt von der Nachfrage der Besucher ab. Das Theater in Dessau ist nicht zu groß, sondern die regionale Absorption in der Kundschaft, also die Nachfragebereitschaft und der Wille, das Theater zu besuchen, sind zu klein. Da fragt man sich unweigerlich: Warum ändert sich daran nichts?
Blum: Die Kilometerzahl wurde aber
nicht geringer. Offiziell wurden zwei Gemeinden verknüpft, die jetzt einen Kulturraum bilden.
Da muss man jedoch sehr vorsichtig sein. Das Theater Dessau ist
ja bekanntlich eine Einrichtung mit einer interessanten, zum Teil
fast bizarren Vergangenheit, gemacht für eine ganz andere
Vorstellung von Kultur. O&T: Wie beurteilen Sie den kulturellen und wirtschaftlichen Standortfaktor des Theaters? Blum: Die Frage reißt ein Thema an, das man in Deutschland eher ungern angeht. Diktaturen sind in der Regel geneigt, die kulturelle Identität eines Volkes zu professionalisieren. Nicht umsonst bauen alle Diktaturen, vor allem totalitäre Systeme, Theater. Das haben die Nazis gemacht und genauso die Kommunisten in der DDR. Man muss sich dabei aber die Frage stellen: Ist das, was von den Totalitären gemacht worden ist, immer falsch? Eine Gesellschaft wird nur dadurch reich, dass sie als Gesellschaft und als ökonomisches System zwei Eigenschaften besitzt. Erstens: Sie muss kreativ sein. Und zweitens: Sie muss billig funktionieren. Beides steht im Widerspruch zueinander. Wir haben es also mit einer Dialektik zu tun, die immer wieder neu austariert werden muss. Die Frage lautet dann: Welche sind die wesentlichen Vermittlungsinstitutionen, um den kulturellen Zusammenhalt und die Identität einer Gesellschaft zu begründen? Und wie schaffe ich im Rahmen dieser Identität den kreativen Spielraum? O&T: Wie ist denn die Interdependenz zwischen einer kulturellen Kreativität, von der Sie eben gesprochen haben, und einer wirtschaftlichen Kreativität? Theater als Marke
Blum: Ich veranschauliche das am Beispiel China: In der chinesischen Kultur ist es üblich, den Meister zu kopieren. Das Kopieren ist dort nichts Schlechtes, es ist Teil der Kulturleistung. Die Chinesen haben aber ein ganz entscheidendes Problem: Solange sie nur kopieren, solange sie nicht selbst kreativ sind, können sie keine Marken erzeugen. Eine Marke muss singulär sein. Ein Theater ist auch eine Marke, die aus Kreativität entsteht. Man holt sich einen schillernden Intendanten, hervorragende Schauspieler, für das Orchester den besten Ersten Geiger, den man bekommen kann. Man versucht also auch, eine Marke, eine Singularität zu schaffen. Das ist ein ganz normaler ökonomischer Vorgang. Deshalb ist Wettbewerb gerade für diese kulturelle Experimentierphase so ungemein wichtig. O&T: Auch Wettbewerb zwischen den Theatern? Blum: Ja, und auch der Wettbewerb innerhalb des Theaters um die bessere Idee. Ein guter Intendant muss sich immer fragen: Kann ich es besser? Kriege ich aus der Mannschaft mehr heraus? Kann ich sie über eine Grenze führen? Das ist doch das, was in einem Theater oder einem Orchester ständig vorexerziert wird. O&T: Würden Sie sagen, dass wirtschaftliche Kreativität von der kulturellen Kreativität lernen kann? Blum: Das ist eigentlich immer so gewesen. So hat August der Starke Sachsen wirtschaftlich kreativ gemacht, indem er es erst einmal kulturell kreativ gemacht hat. O&T: Heißt das, die Chinesen müssen erst einmal Theater bauen, bevor sie Marken entwickeln können? Blum: Ich glaube, sie sind an vielen Stellen auf einem guten Weg. In Europa haben wir durch den Welthandel einen zentralen Wettbewerbsimpuls mit der kleinen Globalisierung erlebt. Bei uns im mitteldeutschen Raum hat die Reformation Entscheidendes verändert. Sie hat etwas erzeugt, was die Menschheit zu der Zeit noch nicht kannte: nämlich den Wettbewerb ums Hirn. „Cuius regio, eius religio“ ist nichts anderes als Humankapitalwettbewerb – ein Wettbewerb der damaligen Fürsten um die besten Köpfe. O&T: Aber wie konnte der Fürst es bewerkstelligen, seine Region attraktiv genug zu gestalten, um diese Köpfe zu bekommen? Blum: Indem er Bildungseinrichtungen schuf und den Wettbewerb förderte. Auch in den Theatern wurde experimentiert. Die Frage, die sich heute immer wieder stellt, ist: Scheitern wir an manchen Stellen ökonomisch, weil wir zu wenig in die Kultur investiert haben? Wie stark müssen wir heute den generationenlangen Vorlaufcharakter der Kultur betonen? Ist der Wettbewerb immer zunächst ein kultureller, damit er in der weiteren Phase überhaupt ökonomisch stattfinden kann? O&T: Wie erklären Sie sich, dass die aktuelle Entwicklung eine andere Richtung einschlägt? Dass Zuschüsse an Kulturinstitutionen zurückgefahren werden – angeblich aufgrund der wirtschaftlichen Probleme? Blum: Man muss dazu immer sagen, dass wir über Peanuts reden. Die gesamten Kulturkosten in Deutschland machen weniger als ein Prozent des Sozialproduktes aus, sie sind also vernachlässigbar. Die Frage ist: Wie sieht sich der Kultursektor selbst als Teil des Gesellschaftssystems? Hier sehe ich die erste große Schwierigkeit. Dann haben wir eine völlig schiefe Besoldungsstruktur in den Kulturinstitutionen. Diejenigen, die das größte Risiko tragen, bekommen die geringste Bezahlung. Sie sind fast prekär. Der Handwerker, der hinten mit seinem Hobel die Kulisse baut, wird vom Tarifvertrag der Länder alimentiert und ist unkündbar. In keinem Sektor der Wirtschaft haben wir eine vergleichbare Situation. Das hat die Gewerkschaft toll hingekriegt. Darüber hinaus muss man sagen, dass der durchschnittliche Kulturschaffende seine Mission in der Gesellschaft nicht erfüllen kann. Er begreift sich oft als Subventionsbezieher, möglicherweise mit Anspruchshaltung. Seine Mission besteht aber zunächst darin, Menschen für die Sache zu begeistern, sie davon zu überzeugen, dass der Mensch ohne Kultur praktisch nichts ist. Somit stellt sich die Frage, wie viel jemand an kulturellen Grundlagen der Menschheit, an Zivilisation, an Bildung in der Erziehung mitbekommen muss, damit er handlungsfähig wird. Heute werden eher religiöse und kulturelle Analphabeten erzogen, die überhaupt nicht in der Lage sind, den gesellschaftlichen Anforderungen vor einem multikulturellen Hintergrund, auf den sie immer öfter stoßen, zu genügen. O&T: Was müsste sich denn am aktuellen Bildungssystem ändern? Das ist auch eine Frage der Leitkultur, über die wir in Deutschland ja nicht reden. In Frankreich oder im französischen Kanada zum Beispiel finden Sie so etwas: Man erzieht dort den Citoyen für den öffentlichen Raum. O&T: Es geht also um eine gesellschaftliche Identifikation in sich selbst… Eigene VerantwortungBlum: Ja, und die ist natürlich in Deutschland ausgesprochen schwierig wegen unserer Vergangenheiten. Die Grundlagen müssten in den Schulen gelegt werden, aber das tut keiner. Die bildenden Fächer werden zugunsten von Mathematik zurückgedrängt. Das kann ich verstehen, weil Mathematik bekanntlich wichtig ist, aber ohne Kreativität ist Mathematik gar nichts. Ich glaube, dass sich die Kulturschaffenden mal selber an ihrer Krawatte nehmen und sich die Frage stellen müssen: Haben wir nicht die Kultusminister oder die Abgeordneten, die wir verdienen, weil wir niemanden mehr vom Wesen unserer zentralen Position überzeugen? Und eben auch davon, dass es sich hier um langfristige Prozesse handelt, die nicht in einer Wahlperiode aufgehen. Wir müssen in Vorleistung für die nächste Generation treten. Die Generationsbilanz ist nicht nur eine Sozialversicherungsbilanz, sondern auch eine Kulturbilanz. Wir verbrennen da gerade Erde. O&T: Der neue GMD Antony Hermus in Dessau steht für solche Positionen. Er begeistert die Menschen. Vielleicht ermöglicht er es, den Standortfaktor Kultur auch wieder gesellschaftsfähig zu machen und die Werte zu vermitteln, die die Kultur für die Gesellschaft schafft. Es ist vielleicht gerade auch das kreative Spiel, das neue Wege eröffnet. Blum: Klar. Ich glaube, hier wird
der Vorleis-tungscharakter offensichtlich. Er muss aber viel mehr
verdeutlicht werden. Das bedeutet auch,
dass ich zum Beispiel die Kindergärten und Schulen wirklich
in die Theater und in die Konzerte „prügeln“ muss. Kultur und WirtschaftO&T: Das heißt, der Ökonom ist eigentlich der beste Kulturpolitiker. Blum: Der Ökonom sagt vielleicht: Ich brauche das Museum nicht. Aber es ist ein Optionsgut, ich kriege es nie mehr zurück, wenn es einmal eingestampft worden ist. Ich leis-te mir kein Theater in Dessau, weil ich es aus Halle ständig besuchen möchte, sondern weil ich weiß: Wenn es einmal weg ist, wird es nie wieder so hingebaut werden. Das ist genau wie bei einer Versicherungsprämie, wenn ich mir eine Haftpflichtversicherung zulege. Ich möchte ja auch nicht, dass der Blitz einschlägt. Aber wenn es doch passiert, möchte ich abgesichert sein. O&T: Was können die Beteiligten tun, um der Gefahr einer möglichen endgültigen Schließung des Kulturstandortes Dessau entgegenzuwirken? Blum: Ich glaube, es gibt zwei Dinge zu tun. Das erste betrifft die unmittelbare Außenwirkung. Es gibt eine gemeinsame Tradition, die mit zwei Standorten verhaftet ist und stärker nach außen getragen werden muss. Es kann sein, dass das ein sehr guter Marketingeffekt ist und man dabei sogar durch Verbesserung der Leistungsfähigkeit wirklich überregionales Publikum zusätzlich anzieht. Das zweite ist: Wir müssen eine Koalition mit den Bildungspolitikern hinbekommen. Wenn ich mir anschaue, wie oft wir als Kinder früher im Kindertheater waren, war das beachtlich. Das passiert heute viel weniger oder gar nicht mehr. Dann braucht man sich auch nicht zu wundern: Wenn man die jungen Menschen in der Kindheit nicht begeistert, werden sie als Erwachsene nicht mehr als Kunden auftreten. Das ist ein langanhaltender Erziehungsprozess. Der Mensch ist Kulturobjekt und Kultursubjekt zugleich. Theater kann man nicht gesundschrumpfen, weil das Gesundschrumpfen irgendwann einer Implosion gleicht. Irgendwann ist man im schwarzen Loch. Das werden wir merken, wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern. Damit muss man schon in der Altersklasse der Unter-Zehnjährigen beginnen. Ich glaube, das ist den Schweiß des Gerechten wert.
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