Blickt man auf den Opernspielplan der letzten Jahre zurück, dann fällt der hohe Anteil an Werken des zwanzigsten Jahrhunderts auf, wobei die klassische Moderne wie die avantgardistische Szene vertreten sind. Genannt seien Alban Bergs Wozzeck in der Inszenierung des Operndirektors Friedrich Meyer-Oertel und unter der musikalischen Leitung von Marc Albrecht, Richard Strauss Elektra und Frau ohne Schatten sowie Arnold Schönbergs Moses und Aron, Berthold Goldschmidts fast vergessene Oper Der gewaltige Hahnrei, Sandeep Bhagwatis Oper Ramanujan . In Uraufführung waren zu erleben Jan Müller-Wielands Oper Die Versicherung, Wolfgang Mitterers Ka und der Pavian sowie Jocy de Oliveiras As Malibrans, in deutscher Erstaufführung Lars Klits Einakter Der letzte Virtuose. EntdeckungsfreudigFriedrich Meyer-Oertel betont im Gespräch, dass das Darmstädter Theater sich schon immer zu seiner Verpflichtung gegenüber dem jeweils Neuen bekannt habe. Andererseits hätten viele frühere Erfolgsstücke nicht mehr die alte Zugkraft. Wenn man gängige Opern auf die Bühne bringe, müsse das Vertraute in neuem Licht erscheinen, denn die Geschichte eines Werkes sei schließlich mit jeder Aufführung weitergeschritten. Die künftige Umbauphase des Theaters, die den zeitweiligen Umzug in Behelfsspielstätten erzwingt, sieht Friedrich Meyer-Oertel auch als Chance: Es gehe darum, Stücke zu finden, die den Improvisationsgeist der Theatermacher herausforderten. Dass man auch bei oft gespielten Komponisten Entdeckungen machen kann, will der Operndirektor demnächst mit Verdis Die sizilianische Vesper zeigen. Fruchtbare ChorarbeitFriedrich Meyer-Oertel bedauert zwar, dass der Darmstädter Opernchor nur etwas über vierzig Mitglieder zählt, doch betont er, wie reibungslos und fruchtbar die Zusammenarbeit mit diesen von Chordirektor André Weiss betreuten Sängern verläuft. Für Werke mit grossen Chorpartien wird ein Extrachor zur Verstärkung verpflichtet, der sich aus Mitgliedern verschiedener Chorvereinigungen zusammensetzt. Bei den Inszenierungen von Wozzeck, Macbeth und Othello beispielsweise wurde die Schlagkraft und Differenziertheit der Chorszenen allgemein gerühmt. Für die Realisierung von Schönbergs höchst anspruchsvoller Oper Moses und Aron wurde zusätzlich der Rundfunkchor Krakau hinzugezogen, so dass zwei Chorgruppen, sich beflügelnd, gegenüberstanden. Meyer-Oertel liebt es, grosse Gruppen in Bewegung zu bringen und, wo immer es möglich ist, die Individualität der einzelnen Sängerinnen und Sänger aufzuspüren und auf der Bühne zur Geltung zu bringen. Bedeutungsvoll ist auch die intensive Arbeit mit dem Kinderchor: Hier wird gleichsam das fachkundige Opernpublikum von morgen herangezogen. Innovatives TanztheaterEine Sparte mit ganz eigenem Gesicht ist das Tanztheater. Dessen Leiterin Birgitta Trommler, 1996 von Münster nach Darmstadt übergewechselt, hat die Suche nach Neuem, verbunden mit künstlerischen Grenzüberschreitungen, auf ihr Panier geschrieben. Dies ist nicht einfach an einem Theater, dass seither wenn man einmal von der Zeit Gerhard Bohners in den Jahren 1972 bis 1975 absieht nur das traditionelle Opernballett gekannt hat. Birgitta Trommlers Konzept folgt einer neuen Ästhetik, die den Tänzer im Spannungsfeld von Musik, Wort und Bewegung sieht, ihm Fantasie und Improvisationsgabe abverlangt: Jeder einzelne ist Autor seiner Rolle. Das konservative Theaterpublikum hat seine Probleme mit einer solch kompromisslosen Haltung, und manche Besucher verweigern sich der Koppelung von Opernabonnement und Tanztheaterbesuch. Doch andererseits findet Birgitta Trommler ihr eigenes Publikum, das interessiert dem Werkstattgedanken einer Arbeit folgt, die bereit ist, sich selbst in Frage zu stellen. Die vierzehn Positionen, die der Tanztheaterchefin zur Verfügung stehen, sind nicht auf Dauer besetzt, so dass mit dem einkalkulierten Wechsel auch das ständige Sammeln neuer Erfahrungen einhergeht. Birgitta Trommler arbeitet gern eng mit Komponisten zusammen. So hat sie mit Moritz Eggert die Stücke Gegenwart ich brauche Gegenwart und Im Sandkasten kreiert, mit Philip Glass Looking for Lulu und The Photographer. Ihre jüngste Produktion verbindet das Tanztheaterstück Stranger than fiction: M.M. nach Jocy de Oliveira, das dem Schicksal der Sängerin Maria Malibran nachgeht, mit Philip Glass Einakter The Fall of the House of Usher. Fürs nächste Jahr plant Trommler zusammen mit Glass ein Stück nach Marguerite Duras, in das eine Countertenor-Partie integriert werden soll.
Die innovative Einstellung des Darmstädter Tanztheaters spricht auch aus der Erprobung neuer Veranstaltungsreihen: Das Festival Serious Fun dient der Suche nach interdisziplinären Theaterformen, der Wettbewerb Cutting Edge bietet, gleichsam als in die Zukunft weisende Speerspitze, jungen Choreografen und Theatermachern ein Forum für die Darstellung ihrer neuen Konzepte. Birgitta Trommler sucht die öffentliche Diskussion. Sie fordert nicht nur ihre Tänzer, sondern auch das Publikum zum Mitdenken auf, und sie überlegt, wie Nachwuchsförderung gelingen kann: durch Besuch öffentlicher Proben, Einführungsveranstaltungen, engere Zusammenarbeit mit den Schulen, originelle Werbung fürs Theater. Pädagogische ArbeitTheaterpädagogik spielt überhaupt eine sehr wichtige Rolle in Darmstadt. Unter dem Motto Theater im Kontakt werden Führungen mit einem Blick hinter die Kulissen, daneben Theaterbesuche mit Vorbereitung und anschliessender Diskussion, Workshops, Spielübungen und Bewegungstraining mit dem Ensemble des Tanztheaters angeboten. Jugend- und Familienkonzerte suchen Interesse für Musik und Musiktheater zu wecken, und auch Lehrer und Lehrerinnen werden gezielt angesprochen. Neben den seit langem fest etablierten Sinfonie- und Kammerkonzertreihen haben Musiker des Staatstheaterorchesters einen eigenen Zyklus ins Leben gerufen, der unter dem Stichwort Soli fan tutti Raritäten und Kostbarkeiten der Kammermusik anbietet und zugleich den hohen Leistungsstand des Orchesters bestätigt. Das Theater geht nach draußen, sucht den Kontakt zu den Bürgern, macht von sich reden nur so kann es seine Zukunft im Dschungel der Mediengesellschaft sichern.
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