Berichte
Eine bipolare Störung?
Arnold Schönbergs „Erwartung“ und Ethel Smyths „Der Wald“ in Wuppertal
Eine Frau betritt die Hotellobby, klingelt, niemand erscheint, sie wartet, will wieder gehen, findet aber plötzlich die Eingangstür verschlossen. Sie ist eingesperrt. An der Wand entdeckt sie ein großformatiges Gemälde mit einer nackten Gestalt inmitten eines expressionistisch wogenden Waldes. Die Frau berührt das Bild – augenblicklich setzt Musik ein und strömt die Malerei per Videoprojektion über die gesamte Szene. Das wild wuchernde Dickicht verwandelt die nüchterne Außenwelt zum wirren Innenleben voll unter- und vorbewusster Triebe, Wünsche, Ängste. Der Wald wird zum Seelenraum, die Seele zum Dschungel der Träume, Fantasien, Begierden.
Sopranistin Hanna Larissa Naujoks irrt als namenlose „Frau“ durch Arnold Schönbergs 1909 entstandenes Monodram „Erwartung“. Auf der Suche nach dem Geliebten schreckt sie vor Ästen, Stämmen, Büschen zurück, die das Mondlicht zu bestialischen Fratzen verzerrt.
Hanna Larissa Naujoks in Schönbergs „Erwartung“. Foto: Björn Hickmann
Ihre Sehnsucht schlägt in Hass auf den Lügner um, der sie mit einer anderen, dieser „Hexe“, betrügt. Schönberg zeichnet in seiner freitonalen Musik ein fiebriges Psychogramm abrupt wechselnder Affekte: zarte Geigenkantilenen prallen auf dumpf bohrende Bässe, schroffe Akzente schlagen in weiche Klangflächen, hier schreien Dissonanzen, dort huschen gespenstische Bläser. Auch Szene und Kostüme (Julia Katharina Berndt) offenbaren Angst- und Wahnvorstellungen: Plötzlich steht ein Mann mit Axt in der Tür, fällt ein totes Reh aus dem Schrank, drängelt eine Menschenmenge über die Bühne. Regisseur Manuel Schmitt legt damit Fährten zu einer Vorgeschichte, die dann erst der zweite Teil des Abends erzählt. Wie bündig sich der Kreis schließt, erstaunt umso mehr, als beide Teile aus zwei völlig unabhängigen Werken bestehen.
Mit dem zurückgebliebenen Beil zerschlägt die Frau schließlich das Gemälde. Durch den Spalt in der Leinwand steigt sie in das Waldbild beziehungsweise die hier attacca einsetzende Oper „Der Wald“ von Ethel Smyth, 1902 in Berlin uraufgeführt. Der Einakter der 1858 geborenen Engländerin beginnt mit einem zauberhaft weichen Chor der Waldgeister. Fern von menschlichem Hass, Leid und Neid besingen die Fabelwesen in leuchtendem E-Dur die Ewigkeit der frühlingshaft verjüngten Natur. Der von Ulrich Zippelius bestens einstudierte Opernchor und Extrachor der Wuppertaler Bühnen intoniert dann auch als Dorfgemeinde das hymnisch-okkulte „Vater unser, du Wald, o heiliger Wald, urewiger Wald, du birgst uns in deinem dämmernden Schoß“. In den spätromantischen Orchester- und Chorschmelz schmiegt sich ein ekstatisches Liebesduett des Brautpaars: Holzfäller Heinrich (Sangmin Jeon) entpuppt sich als jener Mann mit Axt, der zuvor als Spuk erschien und nun zu seiner Hochzeit ein gewildertes Reh mitbringt. Röschen (Mariya Taniguchi) hat – wie die Frau der „Erwartung“ – rote Haare und trägt das gleiche weiße Kleid, dessen Saum jetzt jedoch durch Dreck und Dornen verschlissen ist. Das in der Luft liegende Unheil manifestiert sich schließlich in der von den Dörflern als „Hexe“ gefürchteten Jolanthe (Edith Grossman), der ebenfalls rothaarigen Geliebten des Landgrafen. Gegenüber Schönbergs Monodram sind die Rollen vertauscht.
Der Landgraf irrt der untreuen Jolanthe hinterher, die beim Bräutigam despotisch ihr „jus prima noctis“ einfordert. Heinrich aber widersteht der Erpressung, entweder ihr Jäger/Geliebter oder wegen Wilderei hingerichtet zu werden. Daraufhin wird er von eben jener Frau erdolcht, die am Ende der „Erwartung“ im Blut des von ihr aus Eifersucht ermordeten Geliebten watet und das tote Reh in Armen hält. Plötzlich wirkt die Lobby der „Erwartung“ wie eine psychiatrische Anstalt, in der alle drei Frauen paralysiert vor sich hinstarren und den erneut ertönenden Waldhymnus als einlullendes Sedativ verabreicht bekommen. Der wiederkehrende Riss im Bild führt nun abermals nicht hinaus ins Freie, sondern hinein in die zu einer bipolaren Störung verklammerten Werke von Schönberg und Smyth, deren beziehungsreiche Gesamtaufführung man soeben mit ausgezeichneten Solistinnen und Solisten unter Leitung des Wuppertaler GMD Patrick Hahn erlebt hat. Aus dem wahnhaft geschlossenen Kreis befreit erst der begeisterte Schlussapplaus.
Rainer Nonnenmann |