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Berichte

Die Stärke der Opfer

»Letzte Tage. Ein Vorabend« von Christoph Marthaler an der Berliner Staatsoper
Von Isabel Herzfeld

Verkehrte Welt: Von der Bühne des Schiller-Theaters blicken die Zuschauer in die gähnende Leere des Zuschauerraums mit seinen holzverkleideten Rängen und Logen. Gemeint ist der historische Saal des Wiener Parlamentsgebäudes, das bereits Mark Twain mit einem Opernhaus verglichen hatte. In heftigem Kontrast zur verblichenen Pracht steht das „wilde, rasende und markerschütternde Geschrei“ politischer Auseinandersetzungen, das Twain hier beobachtete und das Christoph Marthaler in seiner Musikcollage „Letzte Tage“ wiederaufleben lässt. Zuerst soll eine Putzkolonne den maroden Raum für eine Gedenkveranstaltung herrichten, „ohne Staub aufzuwirbeln“. Man spricht über seine Krampfadern und räumt ein paar Plastikplanen und Baugerüste beiseite, bevor antisemitische Hetzreden von damals und heute das Gruseln lehren. Beklemmend daran ist nicht nur, dass sie bis auf eine fiktive Rede zum „Weltkulturerbe Antisemitismus“ nicht erfunden sind, sondern auf stenografischen Protokollen der k.u.k-Doppelmonarchie beziehungsweise Texten der deutschen, österreichischen und ungarischen Presse beruhen. Vollends verstört, dass sich in 100 Jahren nichts verändert zu haben scheint. Karl Lueger, Wiener Bürgermeister und Vorbild des jungen Hitler, verkündet 1894: „Der Antisemitismus wird verschwinden, wenn der letzte Jude verschwunden sein wird.“ Viktor Orbán, ungarischer Ministerpräsident, eifert ihm vor dem EU-Parlament mit Verunglimpfungen der „Zigeuner“ nach. Marthaler inszeniert das mit eisiger Komik: Den massigen Josef Ostendorf lässt er Ungeheuerliches sanft-bedrohlich säuseln und den schmalen Ueli Jaeggi am Baugerüst einen kabarettreifen „Ungarn“-Slapstick hinlegen – das Ressentiment schlägt zurück. Katja Kolm als FPÖ-Politikerin darf gar ihre Hymne von rassischer Überlegenheit mit einem schier endlosen Jodler krönen – Symbol der verkorksten, hysterischen Erotik des Faschismus.

Thomas Wodianka und Silvia Fenz. Foto: Bernd Uhlig

Thomas Wodianka und Silvia Fenz. Foto: Bernd Uhlig

Das schaudernde Amüsement wandelt sich zu seltsam triumphierender Trauer, wenn die Stärke der Opfer des nazistischen Terrors zu Wort kommt. Marthaler hat sein Projekt den jüdischen Komponisten aus Tschechien, Polen und Wien gewidmet – nur wenige überlebten die Vernichtungslager oder konnten rechtzeitig emigrieren. Im Müll finden die Putzfrauen zerknüllte Notizzettel, unter anderem von Viktor Ullmann, der in Theresienstadt das Hohelied der Menschenliebe, „Der Kaiser von Atlantis“, schrieb und das Lager als „Schule der Form“ bezeichnete, notwendige Überwindung des Stofflichen. Ullmanns „Fragment“, seine wohl letzte kurz vor dem Abtransport nach Auschwitz verfasste Komposition, durchzieht in der Bearbeitung von Uli Fussenegger das Geschehen, erklingt mal als einsame Geigenlinie, taucht als klangvolles Trio auf oder verweht als verstümmelte Harmoniumfetzen. Fussenegger instrumentierte auch die anderen Musiken von Erwin Schulhoff, Alexandre Tansman, Pavel Haas oder Józef Kofler unter anderem für Instrumente, wie man sie wohl in Theresienstadt gerade vorfand – Klarinette, Akkordeon, Kontrabass.

Und wie eine Lagerkapelle wirken auch die Musiker der „Wienergruppe“ in den wie zusammengesuchten und doch fantasievoll schönen Kostümen von Sarah Schittek, ohne peinliche oder zynische „Authentizität“ behaupten zu wollen. Eine stille Würde strahlen diese stummen Gestalten aus, die fremdenfeindliches Gelärm vor der Zärtlichkeit und Sinnlichkeit ihrer Musik verstummen lassen. Sie scheint stärker zu sein als ihre Vernichter – diese selbst wandeln sich in fahler Kleidung und Beleuchtung plötzlich zu Lagerinsassen. Von Tora Augestads wandlungsfähigem Mezzo angeführt vereinigen sich alle zum finalen Chor: „Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig“ aus Mendelssohns „Elias“. Die Schönheit des Gesangs, der sich als Endlosschleife zweier umherwandelnder Gruppen sanft dissonant verwirrt, lässt das Perfide des Holocaust besonders bitter empfinden und eröffnet doch transzendierende Perspektiven.

Isabel Herzfeld

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