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Berichte

Drama einer Künstlerexistenz

Cayetano Sotos Porträt des Komponisten „Peter I. Tschaikowski“ in der Oper Leipzig

Das ganze Stück ist symbolisch. Das ist Vorteil, aber auch Schattenseite von Cayetano Sotos Abendfüller „Peter I. Tschaikowski“. Dabei steckt sein Ballettabend voller Science-Fiction-Momente. Im Programmheft zu verzeichnende oder auf der Bühne erkennbare Rollen existieren nicht in dieser Neukreation für das Leipziger Ballett. Dem Publikum werden dennoch auf verschiedenen Werkebenen – zumeist sogar zeitgleich – relevante Stationen wie menschlich bedeutungsvolle Begegnungen aus dem Leben des großen russischen Komponisten erzählt. Alles geschieht höchst assoziativ und fragmentarisch.

Klar im Vorteil ist, wer Spaß am gedanklichen Zusammenpuzzeln ästhetisch so deutlicher wie inhaltlich individuell deutbarer Tableaus hat. Die Inszenierung wartet hierzu mit zahlreichen faktischen Informationen und Verständnishilfen auf. Da sind zum Beispiel die auf Russisch eingesprochenen Textpassagen aus dem Off. Deren Übersetzungen lassen sich als Subtitles am Bühnenportal mitlesen. Schade nur, dass man seine Augen von den famosen Tänzerinnen und Tänzern unten auf der Bühne dann loseisen muss.

Leipziger Ballett. Foto: Ida Zenna

Leipziger Ballett. Foto: Ida Zenna

Denn diese leisten schon Fantastisches als namenlose und unisex gekleidete Interpreten einer eher inneren Bewegtheit. Manchmal verhaken sich ihre Körper wie die zweier Käfer – oder sie tasten rücklings mit leicht gekrümmten Beinen in der Luft nach neuem Halt. Biografisch Greifbares bleibt weitgehend außen vor. Sie interagieren tatsächlich dermaßen ausgeklügelt-absonderlich und reich an gestischen Zeichen, dass man meinen könnte, eine KI sei am Entstehen ihrer Soli und Duette beteiligt gewesen.

Doch wie arbeitet der gebürtige Katalane Soto eigentlich? Er denkt in Bildern und choreografiert abstrakt, seit er als Ensemblemitglied unter der Leitung von Philip Taylor im damaligen Ballett Theater München am Gärtnerplatztheater damit angefangen hat. Inhalte werden motorisch wunderbar verfremdet, sozusagen plastisch transportiert. Vergleichbar einem William Forsythe verweigert sich Soto der Erzählweise eines herkömmlichen Handlungsballetts, obwohl die Szenenfolgen seiner Auseinandersetzung mit Tschaikowski durchaus charakterisierende Kapitelüberschriften tragen – beginnend mit „Tod der Mutter“.

Später sind es die Namen der Brüder und jener Männer und Frauen, die zeitlebens für den Komponisten besonders wichtig waren. Dazwischen lassen sich „Engelstag“, „Platonic Bob“ oder nach der Pause die quasi nachgeschobene „Chronologie“ als Schriftzug über dem Tanzgeschehen erhaschen. Sein Stück lässt Soto letztlich biografisch völlig losgelöst tanzend unter den Lettern „Duma“ in einer leise knirschenden Lache ausklingen. Es ist ein offener, transzendenter und ein – wenn auch sich langsam anbahnender – allzu abrupter Schluss.

Landon Harris in „Tschaikowski“ Foto: Ida Zenna

Landon Harris in „Tschaikowski“ Foto: Ida Zenna

Soto erzählt quasi in einem Paralleluniversum. Unsere Realität könnte eine von vielen sein. Wolkenbruchartig prasseln unzählige schwarze Pailletten von der Decke. Das Ensemble in hautengen, schillernden Trikots versammelt sich in diesem Pailletten-See. Es erklingt Tschaikowskis Chorgesang „Cherubikon“ aus seiner „Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomos“. Dazu schlängeln und verschrauben sich alle Protagonisten immer weiter, bis der Vorhang fällt. Eine krasse Metapher: Im Morast aus Ballettkostümglitter bleiben die Tänzer als ewige Abbilder mit der Musik des Komponisten verschmolzen.

Soto versucht das Drama einer Künstlerexistenz im Widerspruch mit gesellschaftlichen Konventionen in einem atmosphärisch nüchternen, farbkargen Kosmos ohne konkrete örtliche oder zeitliche Verankerung zu hinterfragen. Tschaikowskis emotionale Zerrissenheit zwischen Sehnsucht nach Zuneigung und Erfolg, Homosexualität, schöpferischer Kraft und künstlerischem Ehrgeiz soll schlaglichtartig beleuchtet werden.

Es dauert, bis der erste Tänzer in Spiderman-Manier zügig die mehr breiter als tiefe Bühne überquert. Ihm folgt ein zweiter. Mit akrobatischen Überschlägen schleicht und rutscht er vor zwölf goldenen Buchstaben über den Boden. Weitere Akteure schließen sich der Erkundung des „Tschaikowski-Raums“ und dessen seelischer Landschaften an.

Zuerst ist lange bloß das Gewandhausorchester zu hören, das den Abend mit Serenaden, Elegien, verschiedenen Konzertstücken und symphonischen Werken Tschaikowskis souverän begleitet. In einer Ecke verharrt reglos eine übergroße Astronautenfigur. Wie diese wird auch eine leere Stuhlreihe viel später in den Stückverlauf mit einbezogen – in einer Sequenz, die programmatisch den Titel „Publikum“ trägt. Unter bodenlangen Roben, die Köpfe allesamt blumenbekränzt, fusionieren die plötzlich folkloristisch im schwebenden Trippelschritt dahingleitenden 26 Tänzerinnen und Tänzer zu einer zunehmend performativen Gruppe.

Marcelino Libao – nonbinärer Tänzer der Truppe – hält aufgewühlt einen Monolog. Was genau er sagt, ist jedoch kaum zu verstehen. Sein Körper steckt im Weltraumpanzer fest. Lediglich sein Gesicht ist hinter dem Glasvisier erkennbar, an das der Tänzer-Kollege Carl van Godtsenhoven ein Mikrofon presst. Vorn an der Rampe nimmt van Godtsenhoven später selbst auf Französisch den Kontakt zum Publikum auf und erklärt lakonisch „diesen Teil jetzt für beendet. Genießen Sie noch den schönen Abend.“ Dem vorausgegangen war auf Englisch eine höhnisch-scharfzüngige Ansprache über das Lügen in diversen Lebenslagen, die der Choreograf gemeinsam mit seinem langjährigen Lebens- und Kreationspartner Dario Suša verfasst hat.

Für die imposante schauspielerische Leistung erntet Landon Harris eine gewaltige Portion Extra-Applaus. Trotzdem zerfasert der 2. Akt unter zu vielen lauten Einlassungen. Einwürfe zu kulinarischen Vorlieben oder das kurze Trällern des Lieds „Bella ciao“ reißen zwar neue Assoziationsfelder an, letztlich aber greift die per se gute Idee, durch kollektive Verallgemeinerung einen spannungsgeladenen Gegenpol zur anfänglich starken Innenschau zu entwickeln, zu kurz. Tschaikowski als problembehaftete Persönlichkeit und in der Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts stehende Person droht spätestens hier aus dem Fokus zu rutschen.

Dreh- und Angelpunkt des Abends sollten die bis Anfang der 1990er-Jahre in Russland unter Verschluss gehaltenen und erst spät publizierten intimen Tagebuch- und Briefzitate Tschaikowskis sein. Soto gelingt es, einiges davon auf bestechend schlichte, teils witzige oder berührende Weise in die ihm eigene, detailreich-komplexe Bewegungssprache zu übersetzen – darunter ein um gleichgeschlechtliche Liebe kreisendes Männerduett. Dieses bleibt – vielleicht aufgrund seiner unmittelbar verständlichen Lesbarkeit – am nachhaltigsten in Erinnerung.

Vesna Mlakar

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