Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Kulturpolitik

Stenose der Kultur-Arterie

Notwendige Perspektiven des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland

Die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) wird zunehmend von genau denen in Frage gestellt, die von seiner Abwesenheit am meisten profitieren würden. Inzwischen glauben viel zu viele Bürgerinnen und Bürger die Mär eines angeblich „manipulierten Staatsfunks“, der in den Diensten der „Eliten“ steht. Wer jemals im ÖRR gearbeitet hat, weiß, wie lächerlich dieser Vorwurf ist. Wir mögen manchmal von ängstlich zaudernden Redakteur*innen, endlosen Diskussionen über ein ominöses „Zielpublikum“ und unklaren Programmreformen genervt sein. Aber gerade weil der ÖRR von so vielen ganz unterschiedlichen Gremien gelenkt wird, steter Kritik und der Forderung nach Transparenz ausgesetzt ist und es um jedes Fehlverhalten von Verantwortlichen (wie beim RBB) sofort eine öffentliche Diskussion gibt, ist der ÖRR letztlich wesentlich verlässlicher, ausgewogener und in der Recherche korrekter als die tatsächlich von ominösen Geldgebern mit Einzelinteressen finanzierten diversen populistischen Kanäle, die noch nicht einmal ansatzweise sauber recherchieren können, weil ihnen jegliche Kontrolle fehlt. Vielleicht ist der ÖRR in diesen Zeiten sogar wichtiger als er je war.

Gerade deswegen beunruhigt es, wenn man das Gefühl bekommt, dass aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen manche Programmreform (wie zum Beispiel die aktuelle) droht, über das Ziel hinauszuschießen und genau das zu erfüllen versucht, was die Falschen fordern.

Erweiterung ist nicht gleich Verflachung

Es gibt zum Beispiel keinen nachvollziehbaren Grund, warum die Erweiterung des nichtlinearen Programms eine Verflachung des linearen Programms zur Folge haben muss. Gerade wenn – wie in der aktuellen Programmreform versprochen – mehr Kulturinhalte entstehen, sollten diese auch auf den linearen Programmen vermehrt gesendet werden. Stattdessen war in den vergangenen Jahren das Gegenteil der Fall – zunehmende Verflachung der Kulturinhalte, zum Teil mit strengen Zeitbeschränkungen (weil man vor „zu viel Kultur“ aus unerklärlichen Gründen Angst hat) oder zu ungünstigen Sendezeiten. Gerade die Hörerinnen und Hörer, die noch vermehrt das lineare Programm nutzen, sind absolut in der Lage, hochwertige Inhalte in Kultursendungen zu schätzen und zu würdigen, auch gäbe es keinerlei Mehrkos­ten, da diese hochwertigen Inhalte ja verfügbar sind und zum Teil in großer Zahl in Archiven vor sich hinschlummern. Sich ausgerechnet im linearen Programm zum Sklaven der Quote zu machen und hervorragende Sendungen unkuratiert in einer Mediathek (wenn überhaupt) versauern zu lassen, ergibt keinerlei Sinn. Das lineare Programm ist weiterhin das sichtbare Aushängeschild des ÖRR und zeigt dessen Qualität am besten. Das lineare Programm reagiert live auf gesellschaftliche Tendenzen und kann mit einem stets aktualisierten Programm viel schneller auf aktuelle Debatten reagieren als eine Mediathek. Ein gutes lineares Programm resultiert auch in einer guten Mediathek, ein schlechtes lineares Programm macht auch die Mediathek unattraktiv.

Eine Erweiterung der Kulturinhalte im nichtlinearen Programm ist selbstverständlich wichtig. Es ist eine Illusion zu glauben, dass das jüngere Publikum von heute das Radio noch so nutzt wie die sogenannte „Boomer-Generation“. Das junge Publikum weiß aber sehr wohl, wo Relevanz stattfindet und wo es für dümmer gehalten wird, als es eigentlich ist. Es überrascht daher nicht, dass gerade das Anbiedernde und Gefällige am kläglichsten scheiterte in der jüngsten Vergangenheit. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, mit der Zeit zu gehen, solange die Qualität an erster Stelle steht.

Gefahren

Folgende Gefahren drohen angesichts der aktuellen Programmreform (was nicht heißen soll, dass eine Reform grundsätzlich etwas Schlechtes ist) aus der Perspektive zum Beispiel des Deutschen Komponist*in­nenverbandes:
Verlust der regionalen Vielfalt und der Expertise der regionalen Redaktionen – eine der vormals größten Stärken des ÖRR. Konzentration auf immer weniger repräsentative Inhalte, die es für Newcomer aller musikalischen Genres zunehmend schwerer macht, Gehör zu finden. Auch die größten deutschen Stars haben irgendwann in einer Region angefangen und wurden von lokalen Sendern unterstützt.

Verlust des direkten Kontakts mit einer Basis von regionalen Hörerinnen und Hörern, die das personalisierte Angebot schätzen und direktes Feedback geben, nun degradiert zu anonymen Usern einer gesamtdeutschen Mediathek. Ein lineares Programm kann und soll von Hörerinnen und Hörern durch Kritik und Anregungen mitgestaltet werden, eine Mediathek ist zuallererst einmal nur ein Selbstbedienungsladen ohne spezielle Ausrichtung.

Die Abschaffung einer gesunden gesamtdeutschen Konkurrenz regionaler Rundfunkanstalten, die bei uns in einer weltweit einzigartigen Vielfalt von Ensembles und Klangkörpern resultiert hat, die genau wegen dieser Konkurrenz zu ihrer jeweiligen Exzellenz kamen. Wenn alles nur noch gesamtdeutsch gedacht wird, gibt es immer weniger Grund, sich von irgendetwas abzusetzen, Qualitätsschwund und Vetternwirtschaft von immer weniger Namen wird die Folge sein.

Die weiterhin drohende Gefahr des Abbaus genau dieser Klangkörper (SWR-Intendant Kai Gniffke meinte, dies würde unter seiner Ägide nicht geschehen, deutete aber ominös an, dies sei ja auch Entscheidung der einzelnen Anstalten, und er werde sich da nicht einmischen). Wenige Tage später war gleich ein Markus Söder zur Stelle, der die Hälfte der Rundfunkorchester streichen will. Für sowohl das lineare wie auch das nichtlineare Programm wäre aus Sicht des DKV zu begrüßen: mehr Kontakt mit den Protagonist*in­nen der jeweiligen musikalischen Szenen sowie Einbindung dieser Szenen in das Kuratieren von Inhalten. Mehr Produktionen und Chancen für den Nachwuchs, um eine lebendige Kulturlandschaft zu erhalten. Redakteur*innen und Protagonist*in­nen haben zusammen das beste vorstellbare Know-how, wenn das Programm aber ohne Austausch und Feedback mit diesen Szenen entsteht, läuft es Gefahr, diese nicht mehr genügend abzubilden. Dies gilt für alle Spartenprogramme: Jazz, Neue Musik, Pop oder Elektronik. Faire Bedingungen für alle, die für den ÖRR arbeiten, Honorare und Vergütungen, die den Standards entsprechen.

Priorisierung von Bildungs- und Aufklärungsinhalten als Bollwerk gegen den Populismus, der von zunehmender Gleichgültigkeit und Desinteresse profitiert. Und zuletzt ein besonders wichtiger Punkt: Die heutigen Debatten finden nur deswegen vor allem in den sozialen Netzwerken statt (was, wie wir alle wissen, keine gute Entwicklung ist), weil der ÖRR genau das Feld vernachlässigt hat, in dem diese Debatten früher stattfanden: die Kultur. Es gab eine Zeit, in der Jazzkonzerte, Opernaufführungen und Rockfestivals auch eine Gelegenheit waren, politische Diskussionen zu führen. Dies war nur möglich, weil der ÖRR dies in einer ausführlichen und hervorragenden Kulturberichterstattung unterstützte. Da die Kultur im ÖRR aber zunehmend zur Randnotiz verkommt, verhindern wir, dass diese Debatten an genau den Orten stattfinden, wo sie am fruchtbarsten und offensten sind: in der Kulturszene.

Der ÖRR wird stärker und wichtiger, wenn er sich auf diese kulturellen Debatten wieder zunehmend einlässt und ihnen mehr Raum gibt, nicht nur in kulturellen Inhalten, sondern auch in Diskussionen und leidenschaftlichen Gesprächen mit Machern wie Publikum über genau diese Inhalte. Das wäre das beste Mittel gegen die in den sozialen Medien herrschende Desinformation, Hetze und Filterblasenpropaganda. Der ÖRR ist die einzige Möglichkeit, dieser zunehmenden Verrohung entschieden entgegenzutreten – mit Aufklärung, Bildung und leidenschaftlichem Kuratieren der aktuellen Tendenzen in Musik, Literatur, Tanz, Film und Bildender Kunst, die wie nichts anderes das abbilden, „woran unsere Zeit am meisten leidet“ (Kurt Schwitters).

Es würde uns nicht schaden, wenn die Debatten unserer Zeit wieder dort stattfinden, wo sie hingehören – nicht in einer digitalen Echokammer, sondern im wirklichen Leben.

Moritz Eggert

  • Moritz Eggert ist Komponist und Präsident des Deutschen Komponist:innenverbandes.

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner