Elektrisierend wirkte auch, was die drahtigen Jungs der brasilianischen Grupo de Rua de Niterói unter Bruno Beltrao in „H3“ mit dem Ziel, Raumwahrnehmung und physische Konfrontation zu schärfen, auf die Bühne pfefferten. In verzahnten Formationen preschten und kreiselten sie übers Plateau und formten anhand des HipHop’schen Bewegungsrepertoires Duette, die ihre Energie aus Konflikten oder Komplizenschaft zogen. Wie die neun Streetdancer das machten war beeindruckend – für eine rundum spannende Tanzperformance jedoch zu wenig. Ebenso wie das verblüffende Crossover von Live-Tanz und Video der Amerikaner Myrna Packer und Art Bridgman. Zu schnell erschöpften sich trotz ungewöhnlicher Projektionsideen die frappierenden visuellen Effekte von Doppelungen, Identitätsüberblendungen und Schwebeillusionen. Für die fehlenden innovativen Entdeckungen entschädigten dramaturgisch wie ästhetisch sattelfeste Beiträge bekannter Größen – mit teilweise deutlich politischen Aussagewerten. So zum Beispiel VA Wölfl oder die Compañia Nacional de Danza, der Nacho Duato seit 1990 mit seinen Choreografien einen eigenen (wenn auch stark von Jirí Kylián beeinflussten), klassisch-athletisch-fließenden Stil verleiht. Auf dem Programm standen zwei eindringliche Themenstudien des Spaniers. Zuerst „White Darkness“ – eine berührende Parabel auf die zerstörerischen Einflüsse von Drogen. Duato hat im herabfallenden Sand, den die Tänzer aufnehmen, sich durch die Finger und in die Hände rieseln lassen, ein wunderschönes Symbol für das Rauschmittel gefunden. Und darüber hinaus ein Werk geschaffen, das in knapp 30 Minuten atmosphärisch packend von menschlicher Schwäche, Abhängigkeit, Hoffnung, Leidenschaft, beschwipster Albernheit, Zärtlichkeit, Verlust und Tod erzählt. Ganz anders „Herrumbre“ (dt. „Rost“), Duatos gnadenlose Anklage gegen Internierungslager, menschliche Unterdrückung, Folter und Vergewaltigung. Es gibt kein Auskommen, keine poetische Überhöhung. Fast eine Stunde spielen 17 Tänzer konfrontiert mit einem verstellbaren, mobilen Zaungerüst alle erdenklichen Scheußlichkeiten zwischen Tätern und Opfern mit abgründig rüder, impulsiv riskanter, aus der Achse gekippter, ineinander verhakter beziehungsweise gequält verkrümmter Motorik und zugleich tänzerischer Bravour durch. Gleißendes Scheinwerferlicht und suggestive Soundeffekte verstärken die beklemmende Wirkung. Noch bevor das Kernprogramm am 25. Oktober startete, gastierten bereits fünf „kindgerechte“ Produktionen im Theater der Jugend. „DANCE 4 kids“ nannte sich das neue Spezial, das mit zwei höchst reizvollen Vorstellungen ausklang: dem zauberhaften Zirkusduett „Edgar“ des riesenhaften Träumers Grayson Millwood und seiner zierlichen Partnerin Claudia de Serpa Soares sowie Christian Spucks bis ins letzte Detail ausgefeiltem „Don Q“. Letzterer hatte das von darstellerischer Brillanz nur so sprühende Meisterstück über einen älteren Herrn (Egon Madsen) und seinen jungen Weggefährten (Eric Gautier), die in ihrer tragisch-absurden Zweckgemeinschaft gefangen sind, 2007 nach Motiven von Cervantes‘ „Don Quijote“ ersonnen. Mit ihren skurrilen, mal witzigen, mal melancholischen Episoden zählte diese „nicht immer getanzte Revue über den Verlust der Wirklichkeit“ zu den Highlights! Vergleichbar stark in seiner grotesken Wechselwirkung von gegenseitiger Manipulation und Passivität war die Uraufführung „Hotel Hassler“ des Berliner Duos „Wilhelm Groener“ (bestehend aus Günther Wilhelm und der bildenden Künstlerin Mariola Groener). Ihr Trio punktete zudem mit absurden Bewegungsverkettungen seiner Darsteller, die wie ferngesteuerte Marionetten die Skala zwischen Empathie und Grausamkeit ausloteten. Entscheidend dabei: das perfekte Timing – eine Qualität die auch Wim Vandekeybus/Ultima Vez seit mehr als 20 Jahren auszeichnet. Auch der Choreograf Stefan Dreher ging seine Neuproduktion „Ausgenommen die Hunde“ vielversprechend an. Mit originellen Kopfmasken, Krücken und wunderbar tierischer Allüre ließ er seine sechs Performer auftreten. Das Publikum erlebte höllisch gute Hunde, die sich zu streitbaren Tänzern wandelten und sich in Fremdsprachen, Aussprachevarianten und Assoziationen eine Wortschlacht rund um den Begriff „Dog“ lieferten. Trotz der verbindenden Texte von Ruth Geiersberger verpuffte der Reiz an Imagination. Ein Phänomen, quasi symptomatisch für ein Festival, das bei aller Abwechslung zwischen Bewegung und Reglosigkeit, Stille und Lärm, Realität und Irrealität, Konkretem und Abstraktion, Besinnlichkeit und Schockerei, Geschichtsbewusstsein und zeitgenössischen Tendenzen gegen Ende hin einfach ausfranste. Vesna Mlakar |
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