Es existieren Stimmungen und Szenen in Puccinis Oeuvre, die erst
heute ihren vollen zeitdiagnostischen Gehalt offenbaren. Da ist
zum Beispiel jene trostlose nordamerikanische Wüstenlandschaft
des Schlussaktes der „Manon Lescaut“: die letzte Station
von Manons Leben, eines missglückten, leichtfertig für
die Gier nach Komfort und Flitterwerk vergeudeten Daseins. Diese
Einöde ist derweil zu einem Symbol für das Ende der Zivilisation
geworden, die sich durch den Mythos des Konsums selbst zugrundegerichtet
hat. Es ist die Leere und Unbehaustheit unserer eigenen Welt, die
uns aus den fahlen und verhangenen Klängen entgegenkommt,
mit denen Puccini das Dahinsiechen seiner luxusverliebten Manon
schaurig sekundiert. Es bleibt die UnschuldDoch das Faszinosum Puccini ist mit dem Hinweis auf die seismographische Genauigkeit, mit der seine Opern die Umbruchsprozesse der Moderne bis in die musikalische Textur hinein registrieren, noch nicht erschöpfend verstanden. Dem ganzen Geheimnis seiner Musik kommt nur auf die Spur, wer auch den Hoffnungsschimmer wahrnimmt, der bei diesem Komponisten noch den finstersten Ausdruck der Verzweiflung auflichtet. Das sicher berühmteste Beispiel dafür ist Butterflys Arie „Un bel di vedremo“. Die absteigende vokale Linie konterkariert Cio-Cio-Sans Worte, indem sie ihren verbal zum Ausdruck gebrachten Glauben an die unverbrüchliche Liebe Pinkertons als Illusion und Selbsttäuschung entlarvt. Doch das ist nur die semantische Oberflächenschicht dieser Musik. Zugleich hat Puccini die abgrundtiefe seelische Verletztheit, die sich Butterfly noch nicht eingestehen will, ihrem wehmütigen Gesang eingeschrieben: Ein brennender Schmerz, der aus dem tiefen Gefühl des Verlorenseins heraus das Bild des geschwundenen Glücks umso machtvoller herbeiruft. Aber auch das ist noch
nicht alles. Ausschlaggebend für das nachfühlende Hören
wird die Empfindung einer seelischen Unversehrtheit und Reinheit,
die in dem Ganzen immer mitschwingt: Diese Kantilenen haben etwas
Unschuldiges an sich. Sie wissen eigentlich nichts von der Verlogenheit,
der Intrige, der Kälte und dem Misstrauen, die das gesellschaftliche
Leben regieren. Eher schon gleichen sie „zarten, blütenbedeckten,
im Winde schwankenden Ästen“, wie Frank Thiess in seinem
Puccini-Buch (Puccini. Versuch einer Psychologie seiner Musik,
Verlag Wolfgang G. Krüger) notiert; eine Beschreibung, die
nicht als Verharmlosung, als Herabsetzung ihres ästhetischen
Gehalts auf die Stufe bloßen Dekors missdeutet werden sollte. Hoffnung und SehnsuchtNun bleibt Puccini gleichwohl stets ein Realist und ein genau hinsehender Psychologe. Was seine Frauengestalten da in eindringlichen Momenten beschwören, das streift verbal und inhaltlich zugegebenermaßen oft kleinbürgerlich naive Vorstellungen über ein glückliches Leben. Puccinis Heldinnen sind keine politischen Heroinen der Freiheit und der Humanität. Und doch steckt in ihnen eine große Hoffnung und eine große Sehnsucht, um die allein ihr Gesang wirklich weiß. Zu Recht finden sich in beinahe jedem Programmheft diese Sätze aus Puccinis Selbsteinschätzung: „Was habe ich mit Helden und unsterblichen Gestalten zu schaffen? In solcher Umgebung behagt es mir nicht. Ich bin nicht der Musiker der großen Dinge, ich empfinde die kleinen Dinge; und nur sie liebe ich zu behandeln.“ Dass es einfache, alltägliche Menschen sind, denen Puccini seine utopisch-humane Botschaft anvertraut, macht den größten Teil seines Erfolges beim Publikum und einen nicht geringen Teil seiner künstlerischen Größe aus. Darüber sollte man jedoch die geistig-intellektuelle Dimension des Phänomens Puccini nicht unterschätzen. Was in den Kulturwissenschaften erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum beherrschenden Thema wurde, die feministische Kritik an der patriarchalen Gesellschaft, die Fokussierung der Philosophie auf das Andere, Besondere, Singuläre, die Rehabilitation der Sinnlichkeit, die postmodernen Zweifel am Fortschrittsdenken und den Allmachtsphantasien viriler Rationalität, das alles ist in Puccinis vokalem Plädoyer für das Weibliche schon deutlich vorgezeichnet. Mit ihm inaugurierte Puccini eine neue Anthropologie, die eben keineswegs auf eine Bestätigung der überkommenen Geschlechterrollen hinausläuft, sondern die in der Sprache der Töne ein neues Menschenbild erträumt, bei dem Liebesfähigkeit, Zärtlichkeit, Sensibilität und Gewaltlosigkeit dasjenige sind, worauf es im Leben allein ankommt. Christian Tepe |
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