Veronika Petzold: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einen zweiten großen Schub in der bürgerlichen und in der Arbeiter-Sängerbewegung, der nach dem 2. Weltkrieg aufgrund des massenhaften Missbrauchs, der mit dem Chorgesang getrieben wurde, radikal zusammengebrochen ist. Danach hat sich der Deutsche Sängerbund nicht wieder an die Spitze einer musikalischen wie gemeinschaftlichen Initiative gestellt, sondern nach innen gewandt und mit sich selbst beschäftigt. Wir wollen dem Verband heute ein neues – auch politisches – Selbstbewusstsein verschaffen und in die Gesellschaft hinein wirksam werden. Puschke: Auch unsere Basis verändert sich: Es gibt viele junge und neue Chöre und Projekte, die unsere Verbandsstrukturen als althergebracht empfinden. Da etabliert sich eine völlig neue Szene, die von einem Dachverband eine andere Identität, neue Projekte und eine kompetente Fachlichkeit erwartet. O&T: Sie erweitern Ihr Verbandsportfolio
derzeit vom reinen Verband hin – auch – zum Dienstleister für Ihre
Mitglieder. Wie sieht es aus mit der Mitgliederentwicklung? Chorische Identität schaffenO&T: Im September 2011 werden Sie erstmals eine Messe mit dem Titel „chor.com“ veranstalten. Was ist neu am Konzept? Puschke: Uns ist bei den Streifzügen durch die Frankfurter
Musikmesse und andere, neuere Messen aufgefallen, dass es dort
keine singende oder chorische Identität gibt. Es gibt aber
2,4 Millionen Menschen in Deutschland, die singen. Wieso sollen
die keinen Branchentreff haben? Wir sehen es als unseren Auftrag,
so etwas zu organisieren: ein Fachforum, einen Chorleiterkongress,
Best-Practice-Modelle und ein spannendes Festival mit Konzerten
in der Stadt Dortmund. Die Verlage können sich dort mit ihren
Produkten, aber auch fachlich präsentieren. Sie können
Dozenten und Workshops einbringen, und wir bieten dafür die
Plattform, einen Marktplatz der Ideen, der von uns thematisch sortiert
und strukturiert wird. Hauptzielgruppe unter den Besuchern sind
Chorleiterinnen und Chorleiter. Wir erwarten um die 1.000 Fachteilnehmer
in diesen vier Tagen. Die chor.com richtet sich aber auch an Chorbegeisterte,
an Chormanager und an Familien. Deshalb wird es ein buntes musikalisches
Messeprogramm geben. Simon Halsey, der Chef des Rundfunkchors Berlin,
wird dort mit dem Rundfunkchor arbeiten, er wird aber auch mit
1.500 Sängerinnen und Sängern ein Brahms-Requiem zum
Mitsingen aufführen. Es geht darum, eine gemeinsame Identität
für das Singen in Deutschland zu schaffen. O&T: Sie haben schon angesprochen, dass im Dritten Reich großer Missbrauch mit der Singbewegung getrieben wurde. Das war mit ein Grund dafür, dass dem Singen vor allem in größeren Gruppen in den 60er- und 70er-Jahren mit Misstrauen begegnet wurde – auch solchen Veranstaltungen wie zum Beispiel dem Deutschen Chorfest, das ja 2012 wieder stattfinden wird, diesmal in Frankfurt. Sehen Sie da heute noch eine Gefahr? Puschke: Die Gefahr ist auf jeden Fall vorhanden. Es gibt diese Vorbehalte noch. Aber dass eine Gefahr besteht, heißt nicht, dass man sich scheuen sollte, aktiv zu sein. Wir müssen natürlich kritisch gucken: Was ist instrumentalisiert worden im Dritten Reich? Wo sind Grenzen? Wir haben es ja weggeschwiegen. Dass die Menschen auch in größeren Gruppen gerne gemeinschaftlich singen, ist aber ganz natürlich. Petzold: Die Adorno-Nachfolge hat uns ja Generationen von Musiklehrern beschert, die halbe Pianisten sind, aber mit ihrem eigenen Stimmorgan nicht umgehen können. Man sollte die Augen aufmachen und sehen, was es eigentlich in den Chornationen um uns herum gibt. Wir haben heute im Baltikum große Festivals, wo Zigtausende in großen Stadien gemeinsam singen, wo das Singen ein Kulturgut des Volkes im besten Sinne des Wortes ist. Puschke: Die Universität Würzburg hat von uns einen Forschungsauftrag
erhalten: Es geht um die Aufarbeitung unserer Geschichte. Parallel
dazu fragen wir: Was sind die Phänomene des großen,
auch gemeinschaftlichen Singens? Was ist daran international, völkerverständigend,
verbindend? Wir trauen uns das. Beim Chorfest 2012 werden wir in
der Frankfurter Festhalle ein großes Mitsingkonzert veranstalten,
ein Konzert mit 10.000 Aktiven. Da werden wir sehen, wie weit wir
gehen können.
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