Agnes Krumwiede: Ich wollte immer gerne tanzen lernen und war auch als Kind in einer Ballettgruppe, habe mir dort aber den Arm gebrochen (weil ich im Tanzen einfach hoffnungslos unbegabt bin). Das war das Ende meiner Karriere. Für meine zweite Leidenschaft, das Klavierspiel, erschien der Tanz dann so gefährlich, dass ich beschlossen habe, damit aufzuhören. Ich habe aber nach wie vor eine große Liebe zum Ballett. Auf die prekäre Situation der Tänzer wurde ich zum ersten Mal aufmerksam, als ich kurz nach meinem Studium am Ingolstädter Theater ein Engagement bei einem Drei-Sparten-Projekt hatte, an dem auch Tänzer beteiligt waren. Die Tänzer wurden mit Abstand am schlechtesten bezahlt. Dabei ist der Tanz die künstlerische Ausdrucksform mit der extremsten körperlichen Belastung, abgesehen von den hohen Anforderungen an die Konzentration. O&T: Sie beziehungsweise die Grünen haben dafür gesorgt,
dass erstmals Tanz-Expertinnen in den Kulturausschuss des Bundestags
eingeladen wurden. Warum hat der Tanz aus Ihrer Sicht bisher eine
Stiefkindrolle in der Bundeskulturpolitik gespielt? Willkürliche VerteilungO&T: Sie haben die Finanzierung der Bayreuther Festspiele schon früher kritisch thematisiert. Ist es nicht so, dass hier ein Kulturgut gegen das andere ausgespielt wird? Krumwiede: Ich habe nicht die Finanzierung der Bayreuther Festspiele an sich in Frage gestellt, sondern ganz grundsätzlich die Mittelvergabe aufgrund „gesamtstaatlicher Bedeutung“. Damit hat der Bund trotz Kooperationsverbot die Möglichkeiten, Kulturevents oder -institutionen direkt zu bezuschussen. Momentan ist die Verteilung mit der Begründung „gesamtstaatliche Bedeutung“ willkürlich und intransparent, wir benötigen eine klare Definition und nachvollziehbare Verteilungskriterien. Es geht mir nicht darum, den Wagner-Festspielen die gesamtstaatliche Bedeutung absprechen zu wollen oder Kulturgüter gegeneinander auszuspielen. In meiner Rede zur zweiten Lesung des Kulturhaushaltes – auf deren Inhalt Sie anspielen – habe ich gesagt: „Warum werden immer die Kulturevents mit Bundesmitteln vergoldet, die sowieso schon glänzen?“ Es gibt aktuell so viele Kultureinrichtungen in Deutschland, die von Schließungen bedroht sind. Solange nicht eindeutig festgelegt ist, was eine „gesamtstaatliche Bedeutung“ ausmacht, halte ich es für durchaus berechtigt, zu hinterfragen, warum ein Kinder- und Jugendtheater – wie das „Thalia“ in Halle – weniger gesamtstaatliche Bedeutung besitzen soll als beispielsweise die Kunsthalle in Bremen, welche aus dem Kulturetat 2011 mit eben dieser Begründung fünf Millionen Euro erhält. In Leipzig müssen die Oper, das Gewandhaus und das Centraltheater wegen der Novellierung des Sächsischen Kulturraumgesetzes dramatische Einschnitte in Kauf nehmen. Hier kommt der Bund nicht mit der Begründung der „gesamtstaatlichen Bedeutung“ zu Hilfe, während die Wagner-Festspiele jedes Jahr mit 2,3 Millionen Euro bezuschusst werden –ein Event, das sich gerade wegen seiner internationalen Beachtung und Beliebtheit stärker durch Eigenmittel tragen könnte. Die Bewahrung unserer einzigartigen kulturellen Vielfalt – das verstehe ich als kulturpolitische Aufgabe von gesamtstaatlicher Bedeutung. Anhörung im BundestagO&T: Sie hatten im Bundestag sehr kompetente Gesprächspartnerinnen aus verschiedenen Bereichen des Tanzes. Welche Erkenntnisse konnten Sie aus der Anhörung gewinnen?
Krumwiede: Ein Thema war, wie schwierig es ist, nach der aktiven Tänzerlaufbahn den Weg in einen anderen Beruf zu finden. Für die meisten Tänzer ist die Karriere mit 35 oder 40 Jahren beendet. Wenn sie anschließend zum Arbeitsamt gehen, gelten sie dort als ungelernt. Dadurch geht unserer Gesellschaft viel kreatives Potenzial verloren. Es gibt ehemalige Tänzer, die zum Beispiel als Verkäufer im Supermarkt oder als Hausmeister vermittelt werden. Das ist symptomatisch für unsere Gesellschaft: Wir haben eine sehr geringe Wertschätzung für kreative Leistungen. O&T: Welche Möglichkeiten sehen Sie für Umschulungsmaßnahmen? Krumwiede: Die Umschulungsmaßnahmen in zertifizierte, dem
Tanz nahe stehende Berufe wie zum Beispiel Physio- oder Ergotherapie
werden von der Bundesagentur für Arbeit (BA) nicht finanziert,
weil diese Ausbildungen länger dauern als zwei Jahre, die
BA aber nur maximal zwei Jahre finanziert. Das halten wir für
einen großen Missstand. Die Menschen sollen im neuen Beruf
doch davon profitieren, was sie vorher gemacht haben. Dazu wollen
wir eine parlamentarische Initiative starten: Umschulungsmaßnahmen
in dem Tanz nahe stehende und zertifizierte Berufe sollen auch über
zwei Jahre hinaus über die BA finanziert werden. Für
Pflegeberufe und im Erziehungsbereich haben das Bündnis 90/Die
Grünen in einem Antrag auch schon gefordert. Es ist für
den Staat kostengünstiger, ein Jahr mehr Umschulung oder Weiterbildung
zu finanzieren, wenn dafür ein Langzeit-Hartz-IV-Empfänger
weniger unterstützt werden muss. Wir wollen mehr Menschen,
die aus unterschiedlichen Gründen ihren gelernten Beruf nicht
mehr ausüben können, auf dem Arbeitsmarkt erhalten – möglichst
in Berufen, die ihren Neigungen und Begabungen entsprechen. Tänzer in die SchulenDie Expertinnen im Bundestag haben auch über das Thema Bildung gesprochen. Es wurde berichtet, dass viele Tänzer, die nicht mehr aktiv auf der Bühne stehen, sehr gerne in die Schulen gehen und dort Tanz unterrichten. Ich selbst habe in Ingolstadt den Verein „Künstler an die Schulen e.V.“ gegründet, weil ich davon überzeugt bin, dass wir alle unsere zivilgesellschaftlichen Energien bündeln müssen, um mehr Angebote für künstlerische Aktivitäten an Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. (Ganz besonders, so lange mehr kreative Inhalte in unserem Bildungssystem von der politischen Mehrheit nicht gewollt sind.) O&T: Es wurde im Kulturausschuss auch über die soziale Lage der aktiven Tänzer gesprochen, mit der es nicht zum Besten steht.
Krumwiede: Wir haben in Deutschland die Künstlersozialkasse, eine große Errungenschaft. Dort gibt es aber erst nach sechs Wochen Krankengeld. Für Tänzer, bei denen Berufsunfälle auf der Tagesordnung stehen, ist das ein Problem. Es gibt zwar die Möglichkeit, über die KSK eine Zusatzversicherung abzuschließen. Aber das ist für die meisten Tänzer nicht finanzierbar. Laut einer Studie des Fonds Darstellende Künste über die Einkommenssituation von Theatermitarbeitern und Tänzern im Jahr 2009 sind zwei Drittel der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland arm und leben unter der Armutsgrenze in Höhe von 11.256 Euro im Jahr. Das liegt auch daran, dass wir es in diesen Berufsgruppen oft mit Kurzzeit-Engagements zu tun haben. Die wenigsten Tänzer haben das Glück, in ein festes Engagement zu kommen. Zwischen einzelnen Engagements müssen die meisten dann beim Arbeitsamt Hartz IV beantragen. Gerade bei Künstlern sind doch aber Phasen, in denen sie nicht beschäftigt sind, keine Phasen, in denen sie nichts tun. Sie trainieren ja weiter. O&T: Sehen Sie auf politischer Ebene Möglichkeiten, an der sozialen Lage der Tänzer zu drehen? Krumwiede: Meiner Ansicht nach benötigen wir eine Erhöhung der Tarife und auch die Einführung einer Honoraruntergrenze für akademisch-künstlerische Berufe. Außerdem sollten spezialisierte Berater als Ansprechpartner für Kulturschaffende bei der BA eingesetzt werden. Weitere Überlegungen sind, Umschulungsmaßnahmen in dem Tanz verwandte zertifizierte Berufe in vollem Umfang über die BA zu finanzieren und die Vermittlungskriterien der BA so zu modifizieren, dass kreative Qualifikationen bei der Weitervermittlung in Berufe nach der aktiven Tätigkeit als Tänzer anerkannt werden. O&T: Wie sehen Sie die Rolle der Künstlergewerkschaften in diesem Bereich? Krumwiede: Vielleicht liegt es im Wesen vieler Künstler begründet,
sich nicht in Berufsverbänden zu engagieren. Kreative sind
Freigeister und haben Angst, vereinnahmt zu werden. Ich persönlich
denke: Freigeister gemeinsam erreichen mehr als einer allein. Wenn
Künstler zusammenhalten, können sie mehr für ihre „Zunft“ erreichen.
Ich wünsche mir übrigens auch mehr Künstler und
Kreative in der Politik. Tanz-TransitionO&T: Die Stiftung TANZ – Transition Zentrum Deutschland, bei der es genau um den Übergang aktiver Tänzer in das „Leben danach“ geht, ist ja noch recht jung und wurde bisher von der Bundeskulturstiftung gefördert. Diese Förderung läuft jetzt aus. Die Grünen haben im Bundestag einen Antrag auf eine Förderung von 50.000 Euro gestellt. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Bedeutet das das Ende der Stiftung? Krumwiede: Den Antrag haben die Grünen im Nachtragshaushalt eingebracht, er wurde von der SPD mitgetragen. Gerade die Opposition arbeitet im Kulturausschuss sehr gut und oft einvernehmlich zusammen. Ich war fassungslos – und das habe ich auch in meiner letzten Rede im Bundestag eindringlich betont –, dass bei einem Kulturetat von 1 Milliarde Euro diese geringe Summe von 50.000 Euro abgelehnt wurde. Für Sportler gibt es ein vergleichbares Angebot, das von der Bundesregierung finanziert wird: 33 Akteure unterstützen bundesweit Sportler beim Übergang in einen neuen Beruf. Warum soll es das nicht auch beim Tanz geben?! Einige Wochen nach meiner Rede hat der Kulturstaatsminister signalisiert, dass die Stiftung 2011 nun doch finanziert werden soll. Es ist schön zu sehen, dass man durch Überzeugungsarbeit auch in der Opposition etwas für die Sache erreichen kann. O&T: Wie sicher ist es, dass diese Finanzierung nun auch tatsächlich realisiert wird? Krumwiede: Das ist sicher. Mittlerweile hat die Stiftung Tanz-Transition schon die offizielle Zusage des BKM erhalten O&T: Dauerhaft? Krumwiede: Zunächst für 2011. O&T: Wie beurteilen Sie die Tanz-Situation in Deutschland im internationalen Vergleich? Krumwiede: Miriam Wolff hat bei der Anhörung im Kulturausschuss
bemängelt, dass wir in Deutschland gar nicht so weit vorne
liegen. Sie war der Meinung, dass das Niveau der Ausbildung in
anderen Ländern wie Frank- Schwache VerbändeO&T: Es gibt auch einen Dachverband Tanz Deutschland – Ständige Konferenz Tanz. Was kann denn der bewirken? Krumwiede: Der kann genauso viel bewirken, wie er es schafft, die Tänzer für sich zu gewinnen. Viele Tänzer wissen gar nicht, dass es einen solchen Dachverband gibt und dort Interessen wirksam vertreten werden können. Im Moment empfinde ich bei vielen Verbänden im Kulturbereich: Sie sind nicht besonders stark. Die Verbände dürften noch lauter schreien. Sie müssen viel intensiver auf ihre Interessen aufmerksam machen. Es gibt Verbände im Kulturbereich, die so unstrukturiert sind, dass sie es nicht einmal schaffen, ihre Forderungen auf ihrer Website aufzulisten oder mir in Schriftform zukommen zu lassen. O&T: Sie haben davon gesprochen, dass Tänzer nach der aktiven Zeit auch in die Schulen gehen könnten. Gibt es aus Ihrer Sicht – oder gibt es nicht viel zu wenig – Institute, die analog zu den Musikschulen den Tanz an Kinder und Jugendliche vermitteln? Krumwiede: Ich kenne Tanzschulen, die ganz tolle Projekte mit Kindern und Jugendlichen machen… O&T: … die aber vermutlich wie die meisten Tanzschulen privat sind. Krumwiede: Ja, das stimmt. Mir
schwebt aber sowieso ein anderes Modell vor. Eines, das es an manchen
Hochschulen schon gibt. Da
kann man Musik studieren und in den Räumen nebenan Tanz oder
Darstellende Kunst. Etwas Vergleichbares sollte es auch in der
kulturellen Kinder- und Jugendbildung geben: Städtische kulturelle
Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, die alle
Künste unter einem Dach versammeln. Davon würden die
jungen Menschen enorm profitieren, denn die einzelnen Kunstformen
inspirieren sich gegenseitig. Außerdem brauchen wir in Deutschland
eine Erweiterung des musischen Fächerkanons an den Schulen.
In einigen skandinavischen Ländern gehört zum Beispiel
auch Theaterspielen zur schulischen Allgemeinbildung. Wir Grünen
wollen mehr individuelle Förderung an Schulen, dazu gehören
auch mehr kreative Bildungsinhalte. In meinem Bildungssystem der
Zukunft können sich Schüler an Ganztagsschulen ihren
Neigungen entsprechend zwischen vielseitigen Workshops entscheiden – darunter
auch künstlerische Angebote, Sport, Ballett, Breakdance, Standardtanz
und so weiter. Wenn Tänzer nach ihrer aktiven Zeit verstärkt Menschen, die querdenkenO&T: Sie sind sehr engagiert in der Kulturpolitik und haben sich einiger Themen intensiv angenommen. Wie stark ist der Rückhalt in Ihrer Partei für diese Themen? Sind Sie da manchmal allein auf weiter Flur? Krumwiede: Der Rückhalt wächst, je mehr ich nerve. O&T: … eigentlich schade. Krumwiede: Nein, das ist doch gut. Die Grünen sind eine Partei von fleißigen Individualisten. Für alle Fachpolitiker ist der eigene Themenbereich natürlich der „wichtigste“. Ich versuche immer wieder zu erklären, warum die Kulturpolitik genauso wichtig ist wie beispielsweise die Energiepolitik. Die aktive Beschäftigung mit den Künsten kann unser Denken verändern. Unsere Gesellschaft benötigt Menschen, die querdenken, die kreativ und mutig sind. Es geht um neue Ideen und um Gestaltungskompetenzen für die Welt, in der wir leben wollen. Was das BIP misst, ist nicht der Maßstab für ein erfülltes Leben – die Kultur spielt hier eine entscheidende Rolle, kulturelle Angebote durchbrechen den Automatismus des Alltags und eröffnen uns emotionale Erlebniswelten. Kultur zieht sich wie ein grüner Faden durch alle Themengebiete. Politik ist angewiesen auf kreative Impulse, unsere Gesellschaft braucht ein Gegengewicht zum technokratischen Denken. Viele Kollegen in meiner Fraktion stärken mir den Rücken, unterstützen und beeinflussen konstruktiv meine kulturpolitische Arbeit. Dass ich mich bei neuen Initiativen natürlich zunächst in den eigenen Reihen argumentativ durchsetzen muss, stärkt mich als junge Politikerin und schärft meine Überzeugungskraft. O&T: Gibt es etwas, das Sie als Ihren größten Erfolg im ersten Jahr als Bundestagsabgeordnete bezeichnen würden? Krumwiede: Dass die Transition-Stiftung jetzt doch den Zuschuss erhält, war auch für mich ein schönes Weihnachtsgeschenk. Für mich als junge Parlamentarierin der Grünen ist das ein Hoffnungsschimmer – sachorientierte Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg ist in diesem Fall gelungen. Das darf gerne öfter so laufen!
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