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Kulturpolitik

Auf ein Wort mit...

... Sebastian Ritschel, Intendant des Theaters Regensburg
Im Gespräch mit Barbara Haack

Sebastian Ritschel ist seit der Spielzeit 2022/2023 Intendant und Operndirektor am Theater Regensburg. Nach seinem Studium der Musik- und Theaterwissenschaften und einer Weiterbildung „Theater- und Musikmanagement“ war er am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau von 2006 bis 2016 Hausregisseur und leitender Dramaturg. 2017 wechselte er als Operndirektor und Leiter der Sparte Musiktheater an die Landesbühnen Sachsen. Für seine Arbeiten ist Sebastian Ritschel mehrfach ausgezeichnet worden. Barbara Haack sprach Ende Juni für „Oper & Tanz“ mit ihm über seine ersten Erfahrungen in Regensburg, seine Pläne, über Nachhaltigkeit – und über die Operette.

Oper & Tanz: Ihre erste Spielzeit als Intendant in Regensburg liegt fast hinter Ihnen. Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen?

Sebastian Ritschel: Eine Intendanz anzutreten ist immer etwas Besonderes. Es ist meine erste Intendanz, die erste Gesamtverantwortung für ein Haus mit vielen Ensembles, und es ist unfassbar spannend, wie wir miteinander gewachsen sind. Wir haben uns für diese Saison 35 Premieren vorgenommen. Die wirklich alle gemacht zu haben, alle in Freundlichkeit, alle in Professionalität und vor allen Dingen alle auf demselben hohen künstlerischen Niveau, ist ein tolles Gefühl.

O&T: Aber auch herausfordernd.

Foto: Pawel Sosnowski

Foto: Pawel Sosnowski

Ritschel: Total. Es ist sehr fordernd. Ich habe mir vorgenommen, wirklich alles zu begleiten und überall dabei zu sein, auch alle Endproben-Prozesse zu begleiten. Das ist gut investierte Zeit. So ein Neustart ist ja auch immer ein Zusammenführen eines bestehenden Ensembles mit einem neuen Ensemble.

Wir haben in dieser Saison verstärkt Mehrsparten-Projekte gemacht. Da müssen dann zum Beispiel ein Tänzer und eine Schauspielerin, ein Opernsänger und eine Musicaldarstellerin, die alle unterschiedliche Herangehensweisen an ihren Beruf haben, plötzlich in einer Produktion miteinander spielen oder musizieren. Das waren viele, viele Lernprozesse, die alle sehr gut aufgegangen sind.

O&T: Und die Beteiligten haben sich darauf eingelassen?

Ritschel: Ich habe mit jedem einzelnen Darsteller, jeder Darstellerin, die ans Haus gekommen ist oder auch am Haus war, im Vorfeld sehr intensive Gespräche geführt. Was erwarten sie und wie wollen wir arbeiten? Ich finde es wichtig, offen zu kommunizieren, dass sich etwas verändern und man aus der Komfortzone gelockt werden wird. Man muss versuchen, ein Mehrspartentheater auch zu leben. Allein die Tatsache, dass wir jetzt eine Puppenspielerin im Ensemble haben, also eine halbe Sparte mehr als vorher! So eine Puppenspielerin braucht natürlich vor Probenbeginn ihre Puppen. Die müssen noch ein Jahr früher fertig sein. Es sind sehr viele Dinge, die der Standort Regensburg so nicht hatte und nicht kannte.

O&T: Das letzte Projekt der Spielzeit heißt „Wahrheiten“. Die ganze Spielzeit stand aber bereits unter diesem Motto. Entwickeln Sie erst ein Motto oder erst das Programm, für das Sie dann ein Motto finden?

Ritschel: Ich mache erst das Motto. Ich finde es wichtig, dass wir uns tatsächlich als Mehrspartentheater begreifen, als eine Einheit mit unterschiedlichen Seiten. Also ein lebendiger Kosmos, der sich auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken kann. Da hilft ein Motto sehr.
Als wir diesen Spielplan vorgestellt haben, kam die absurde Diskussion auf, ob es denn mehrere Wahrheiten überhaupt gibt. Das hat mich darin bestärkt, dass es das richtige Motto für den Einstieg war.

O&T: Was konkret haben Sie sich unter diesem Motto vorgestellt, was haben Sie damit intendiert?

Ritschel: Wir kommen aus einer Zeit, die von der Pandemie geprägt war und haben in den letzten zwei Jahren gesellschaftliche Umbrüche erlebt. Dass da plötzlich ein Krieg ist, dass die Klimakrise noch intensiver wird, dass Energieproblematiken auf uns zusteuern, dass Fehlinformationen gezielt gestreut werden: Das sind keine Dinge, die wir uns ausgedacht haben. Wir fragen uns: Welches Thema spielt gerade in unserem Leben eine Rolle? In unserer Vorbereitungszeit war dies eben das Thema Wahrheit und Wahrheiten.

O&T: Wie hat sich das Motto konkret im Programm gezeigt?

„1984“ mit dem Ensemble des Theaters Regesnburg. Foto: Marie Liebig

„1984“ mit dem Ensemble des Theaters Regesnburg. Foto: Marie Liebig

Ritschel: Zu Beginn stand auf dem Musiktheater Spielplan „Der Prozess“ von Gottfried von Einem und am Ende der Saison „1984“, die Oper von Lorin Maazel. Daran sieht man, dass wir uns dramaturgisch im Verlauf der Saison mit verschiedenen Stufen von Wahrheitsfindung, von Wahrheitsverdrehung beschäftigen und auseinandersetzen.

Wenn wir uns zum Beispiel „Pinocchios Abenteuer“ anschauen, also unsere Familienoper: Was heißt es, wenn man lügt? Der Komponist hat uns besucht, Jonathan Dove. Wir haben danach in regelmäßigen Abständen Autogrammstunden für Kids gegeben. Und die Kids haben sich nicht nur mit dem Komponisten unterhalten und dann auch gefragt, wie er es mit dem Lügen hält. Sie haben sich auch mit den Darsteller*innen unterhalten. Sie haben sich bei den Darsteller*innen von Fuchs und Kater ihre Autogramme geholt, dann aber auch gesagt: Das war ziemlich gemein, was Ihr da gemacht habt. Genau das war das Ziel, dass Reflexion und Kommunikation stattfinden.

Das gilt auch für die anderen Sparten. Unser Tanzchef Wagner Moreira hat mit „Massa Mobil“ im öffentlichen Raum begonnen. Die meisten von uns sind so sozialisiert, dass Tanz in einem geschlossenen Raum stattzufinden hat. Wir haben diese Wahrheit gebrochen.

O&T: Für die nächste Spielzeit haben Sie ein neues Thema, ein sehr aktuelles Thema ausgewählt. Identitäten. Wie manifestiert sich das im Programm?

Ritschel: Wenn wir uns von den „Wahrheiten“ aus der zweiten Saison nähern, dann ist das eher ein globaler Blick, die Möglichkeit, von außen nach innen zu gucken, während wir bei „Identitäten“ genau andersherum schauen. Ich schaue aus mir heraus, es geht plötzlich um den Einzelnen, um den Menschen in seiner Mannigfaltigkeit. In der nächsten Saison wollen wir uns damit beschäftigen: Was macht das Menschsein aus? Was macht eine Identität aus? Welche Spielarten gibt es? Wo kommen wir her? Wer sind wir?

Erstaunlicherweise beschäftigen sich viele Stücke, wenn man in die Analyse geht, nur mit diesen zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn man jetzt eine ganze Spielzeit subsumiert unter diesem Titel, dann fragen wir bei „Ariadne auf Naxos“: Was ist die Identität dieser Primadonna, die nachher Ariadne ist? Was ist dieses Theater auf dem Theater-Moment? Parallel dazu „Der nackte Wahnsinn“ im Schauspiel. Und dann von einer Komödie, die, wenn sie gut gemacht ist, wirklich genialistisch ist, hin zum anderen Extrem: „Valuschka“ von Peter Eötvös, zeitgenössisches Musiktheater für Regensburg komponiert. Er selber dirigiert bei uns. Wir werden uns da sehr zeitaktuell mit einem gesellschaftlichen System beschäftigen, das auf den Einzelnen wirkt. Es ist eine groteske Komödie, die auch ein bisschen grauenvoll ist, also tragikomisch, wo man lacht, und dann bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Wenn wir am Ende der Saison dann mit „Rocky Horror“ in die Donauarena gehen, dann spannt sich so ein Bogen. Da ist über Identität alles gesagt, über sexuelle Identität und gesellschaftliche Identität. Das ist dann nicht einfach nur ein Abklatsch dessen, was wir vor 50 Jahren als Uraufführung erlebt haben, sondern eine Weiterentwicklung.

O&T: Das Thema Identitäten umfasst unter anderem die Frage der kulturellen Aneignung, die derzeit intensiv diskutiert wird. Wie stehen Sie dazu?

Ritschel: Das ist eine schwierige Diskussion, denn unser Beruf ist es ja, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, so zu tun als ob. Ich habe für mich noch keine abschließende Antwort gefunden. Ich war fünf Jahre in Radebeul und habe dort die Karl-May-Thematik erlebt. Oder das Thema „Blackfacing“: Im Musical „Parade“, wo Rassismus und Antisemitismus behandelt werden, sind drei Rollen People of Color und natürlich machen das People of Color.

O&T: Ein Blick auf die gesamte Spielzeit?

Komponist Jonathan Dove begrüßt Pinocchio und Puppenspielerin Johanna Kunze. Foto: Tom Neumeier

Komponist Jonathan Dove begrüßt Pinocchio und Puppenspielerin Johanna Kunze. Foto: Tom Neumeier

Ritschel: Ich verwende gerne dieses Wort Menü. Ich versuche, ein Menü zu kreieren, das sehr unterschiedliche Gelüste befriedigen kann. Da gibt es natürlich auch Dinge, die man noch nie gesehen hat oder die man sich noch nicht getraut hat. Meine Mutter würde zum Beispiel nie Austern essen. Ich packe aber trotzdem eine Auster in dieses Menü und sage: Koste doch mal. Wir haben uns jetzt schon einen Vertrauensvorschuss erarbeitet und bekommen das Feedback: Wenn ihr was ansetzt, dann macht ihr was Ordentliches draus. Und da trauen wir uns auch mal hinzugehen, wenn dieses Menü noch unbekannt ist.

O&T: Dieses bunte Menü ist im Spielplan spürbar. Haben Sie das Gefühl, dass das gut angenommen wird in Regensburg? Akzeptiert das Publikum, dass das Programm mit weniger Klassikern aufwartet?

Ritschel: Natürlich gibt es Menschen, denen die Klassiker fehlen. Aber sehr viele sagen: Was sind das für irre Sachen, die ihr da macht! Man hat mir Risikofreude vorgeworfen, zum Beispiel, als ich die neue Intendanz mit dem „Prozess“ als Oper begonnen habe. Natürlich ist das ganz bewusst gesetzt: Wir machen Musiktheater am Zahn der Zeit. Ich setze bewusst Stücke auf den Spielplan, mit denen ich auch mein Haus gut präsentieren kann. Nicht nur das Stück ist wichtig, sondern auch die, die es machen, sowohl das künstlerische Team als auch die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne und im Orchestergraben. Das Menü muss auch in dieses Haus passen.

O&T: Sie gehen mit dem Theater auch raus in die Stadt: „Massa Mobil“, also Tanz an öffentlichen Plätzen, das Balkonsingen, wo Künstler*innen auf dem Theaterbalkon für Menschen auf dem Platz vor dem Theater singen, oder das Projekt „Wahrheiten“, mit dem Sie im Juli in die Stadt gehen. Bekommen Sie eine Resonanz?

Ritschel: Mit dem Balkonsingen einmal im Monat haben wir es tatsächlich geschafft, die Stadtgesellschaft zu mobilisieren. Die höchste Besucherzahl lag bei knapp 2.000 Menschen, und auch im Winter, als es kalt war, kamen 400 Zuschauer*innen. Das Schöne ist, dass das nicht als Werbeveranstaltung für Dinge im Haus geplant ist; die Künstler musizieren einfach für die Menschen da draußen. Ich habe die Marschrichtung ausgegeben: Versucht, so wenig wie möglich Standardrepertoire zu singen. Singt das, was ihr schon immer singen wolltet und euch keiner erlaubt hat.
Natürlich soll das auch zeigen, in welcher Vielfalt wir unterwegs sind. Und wir haben ein sehr vielfältiges Ensemble. Die Mitarbeitenden dieses Hauses sind Träger nach außen, und die Stadtgesellschaft findet diese Menschen interessant.

O&T: Generieren Sie mit diesen Außer-Haus-Aktionen auch ein neues Publikum?

Ritschel: Ja, definitiv.

O&T: Ist das messbar?

Ritschel: Ein Beispiel war an Silvester die Doppelvorstellung „Candide“. Da war viel neues Publikum. Vor allen Dingen hat sich der Altersdurchschnitt deutlich verändert. Das sagen auch die Kolleginnen und Kollegen vom Theater-Café: Seitdem ihr hier seid, ist die Durchmischung viel größer. Es gibt die Leute, die wir schon immer kennen, und es gibt ganz viele Leute, die wir nicht kennen. Und die Auslastungszahlen sind gut.

O&T: Beim Thema Nachhaltigkeit sind Sie weit vorne. Was konkret tun Sie in diesem Bereich?

Tanz im öffentlichen Raum mit „Massa Mobil“ auf der Regensburger Jahninsel. Foto: Tom Neumeier

Tanz im öffentlichen Raum mit „Massa Mobil“ auf der Regensburger Jahninsel. Foto: Tom Neumeier

Ritschel: Matthias Schloderer, unser Kaufmännischer Direktor, und ich sind ja gleichzeitig berufen worden. Matthias hat ein bisschen früher angefangen und hat dann versucht, ein Tracking einzuführen: Wie viele Verbräuche haben wir in verschiedenen Bereichen? Wir haben dann systematisch eine Datenbank aufgebaut, damit man eine Nulllinie hat, von der aus man messen kann. Bei den „Oper! Awards 2023“ sind wir für unsere Nachhaltigkeits-Initiative ausgezeichnet worden. Wir haben 25 verschiedene Liegenschaften. Für diese war zunächst die Challenge herauszufinden: Was ist das überhaupt für ein Stromvertrag? Wohin zahlen wir das denn? Das war eine Selbstreinigung, um das, was immer schon so war, auf den Prüfstand zu stellen. Neben dem Tracking haben wir herausgefunden, welche Verbräuche wir im Haus haben und was wir anders machen müssen. Wir haben zum Beispiel beschlossen, dass wir unseren Konzertsaal, den Neuhaussaal, umbauen mit LED. Wir waren das erste Theater, das eine so umfassende Klimabilanz hat erstellen lassen. Und jetzt gibt es Theater, die anrufen und fragen, wie wir das machen.

O&T: Um Nachhaltigkeit geht es auch beim Stadtraumprojekt „Wahrheiten“.

Ritschel: Die Idee war, sich noch einmal mit der Spielzeit und auch mit der Stadt zu beschäftigen. Wenn Sie durch diese Stadt gehen mit einem Blick von außen, sehen Sie das Sterben der kleinen Geschäfte, das Entstehen von Leerraum und Leerständen. Wir wollten eine spielerische Form finden und uns durch einen Pilgerweg noch mal Verlebendigung vergegenwärtigen. Was hat uns das letzte Jahr wirklich beschäftigt? Was machen die Orte in der Stadt? Und nehme ich als Regensburgerin und Regensburger die Stadt überhaupt noch wahr? Alle Sparten dieses Hauses, also über 200 Mitarbeitende, sind dafür da, an zwei Wochenenden diese Stadt lebendig zu machen. Wir haben sechs wirklich spannende Orte gefunden. Wir werden hier am Theater beginnen. Mit dem Kauf des Tickets gibt man eine Selbsterklärung ab. Sind Sie mit dem Fahrrad gekommen? Sind Sie zu Fuß gegangen oder doch mit dem Öl-Diesel hergefahren? Wenn Sie klimaneutral angereist sind, bekommen Sie erst mal die zehn Euro Klimakaution zurück, die Sie vorher mit dem Ticket bezahlt haben. Dann werden die Besucher*innen in Gruppen aufgeteilt und gehen in ihren Gruppen, die mit Farben gekennzeichnet sind, unterschiedliche Wege durch die Stadt. Sie werden unterschiedlich geführt und sie werden unterschiedliche Dinge zu unterschiedlichen Zeiten wahrnehmen. Die Orte haben eine Historie, ebenso wie die Menschen, die diese Orte besuchen. Es geht also auch um die eigene Geschichte mit dem Raum. Insofern ist es für Regensburgerinnen und Regensburger vielleicht noch spannender als für Auswärtige, die eigene Geschichte in einen Kontext zu setzen mit dem, was jetzt gerade dort passiert. Am Ende trifft sich diese gesamte Gruppe noch mal am Kohlmarkt; dort gibt es eine Uraufführung von Tom Woods, die „Glauben“ heißt. Und was hat Wahrheit mit Glauben zu tun?

O&T: Sie erklären das Projekt auch für klimaneutral. Wie genau realisieren Sie das?

Ritschel: Es gibt Richtlinien von Fonds Zero, von der Bundeskulturstiftung. Wir sind dort in der Förderung. Transporte machen wir zum Beispiel nicht mit dem Auto, sondern mit dem Lasten-Fahrrad. Möbel werden mit dem E-Sprinter transportiert, und der E-Sprinter wird mit Ökostrom gefahren. Ein großes Thema ist eben auch die Besucherinnen- und Besucher-Mobilität. Wir probieren das jetzt aus: Funktioniert es? Ist der Aufwand gerechtfertigt? Was ist am Ende der Output? Es ist der Versuch, mit einem künstlerischen Projekt auch in diesem Bereich einen Schritt nach vorne zu gehen.

O&T: Vor ein paar Wochen wurde bekannt, dass das Theater Regensburg Staatstheater werden soll. Was bedeutet das genau? Hat es wirklich eine Auswirkung? Wird die Stadt weiterhin so viel zahlen wie vorher oder wird sie dann reduzieren?

„Der Prozess“ mit Hany Abdelzaher, Christopher Wernecke und Daniel Pataky. Foto: Pawel Sosnowski

„Der Prozess“ mit Hany Abdelzaher, Christopher Wernecke und Daniel Pataky. Foto: Pawel Sosnowski

Ritschel: Das ist ein riesengroßes Geschenk, und es ist ein langer Weg zu so einem Prozess. Es ist so, dass der Freistaat Bayern zu einem Zeitpunkt X, den wir tatsächlich heute noch nicht kennen, seine Förderung an die Förderung der Stadt anpassen wird, so dass am Ende des Tages eine Pari-Pari-Förderung da steht. Bedingung ist: Die Stadt darf nicht nachlassen. Das wird sich jetzt über ein paar Jahre hinziehen. Dieses Jahr gab es schon ein bisschen mehr Förderung, und die soll tatsächlich auch in den künstlerischen Betrieb fließen, also in die Steigerung der Kunst. Dazu gehört natürlich auch das Personal. Wir wissen ja, dass es diese riesigen Tarifsteigerungen gab, die ich begrüße. Aber die werden uns natürlich vor große Herausforderung stellen, weil nicht plötzlich der Geldkoffer da ist, aus dem man das zahlen kann. Insofern ist das jetzt für das Theater Regensburg eine großartige Perspektive.

O&T: Der Schwerpunkt unserer Ausgabe heißt Operette. Das ist mindestens eines Ihrer Faibles, wobei Sie sich vor allem mit Unbekanntem beschäftigen, weniger mit Werken wie die „Lustige Witwe“ oder die „Fledermaus“.

Ritschel: Ich habe schon eine großartige „Lustige Witwe“ machen dürfen. Eine tolle „Fledermaus“ habe ich noch nicht gemacht, aber schon Konzepte dafür geschrieben.

Das Schwierige an Operette ist: Operette muss ernst genommen werden. Und ich habe mich als Regisseur immer geweigert, mich in irgendeine Kiste stecken zu lassen, als Opernregisseur oder Musical-Onkel oder Operetten-Onkel. Jedes Stück ist es wert, ernst genommen zu werden. Tatsächlich sind die Spielregeln in der Operette andere als in der Oper.
Und natürlich ist jede Operette auch ein Spiegel der Zeit, in der sie entstanden ist. Wenn wir uns zum Beispiel wissenschaftlich mit Offenbach beschäftigen, dann wissen wir, dass das, was wir in den 1960er- und 1970er-Jahren von Offenbach auf Schallplatte gebannt bekommen haben, nichts mit dem zu tun hat, was Offenbach wirklich wollte. Es ist immer ein großer Transformationsprozess: Die Erwartungshaltung an die Operette, die noch geprägt ist durch die Ausläufer des Dritten Reiches, ist nicht ganz das, wofür das Genre eigentlich da ist.

Tatsächlich ist es eines meiner Fachgebiete, Dinge auszugraben. Ich bin unendlich dankbar, dass wir in dieser Saison schon ein Porträt-Konzert mit Musik von Joseph Beer gemacht haben. Tatsächlich ist Joseph Beer ganz tief in meinem Herzen drin. Ich bin zu Intendantinnen und Intendanten gegangen und habe gesagt: Ich will die „Polnische Hochzeit“ machen. Lernt dieses Stück kennen. Da kommen wir aber wieder zum Thema: Operette muss bekannt sein. Bitte keine Experimente. Nora Schmid in Graz sagte mir dann: „Ich suche händeringend einen Regisseur, der mir die ‚Polnische Hochzeit‘ macht.“ Und so haben wir einen Riesenerfolg in Graz auf die Bühne gestellt und dieses Stück wieder ins Bewusstsein gebracht.

O&T: Sie machen in der nächsten Saison Joseph Beers „Prinz von Schiras“, auch ein unbekanntes Werk.

Ritschel: Das ist ein Klavierauszug, den unser Chefdramaturg Ronny Scholz und ich in einem Antiquariat gefunden haben. Danach waren wir knapp sechs Jahre auf der Suche nach diesem Material. Dieses Stück hat unfassbar tolle Musik und hat die übliche Operetten-Problematik, dass man mit Klischees arbeitet und mit dem Blick von heute. Man muss aber in die Zeit gehen; da war kulturelle Aneignung kein Thema. Es war klar, dass man mit Klischees arbeitet und diese ironisch bricht.

Wir haben einen endlosen Weg der Recherche und einen endlosen Weg der Erbenfindung und Verlagsfindung hinter uns und sind mit den beiden Töchtern Béatrice und Suzanne Beer sehr intensiv in Kontakt. Wir rekonstruieren das Stück jetzt und sehen uns dabei auch als Grundlagenschaffer für Nachspielende.

O&T: Joseph Beer gehörte – wie viele andere Operetten-Komponisten – zu den aus Sicht der Nationalsozialisten „entarteten“ Künstlern und musste nach dem „Anschluss“ Österreichs fliehen. Spielt so eine Geschichte für Sie eine Rolle, wenn Sie sich mit diesen Stücken beschäftigen?

Ritschel: Es ist erschreckend, wie viel Repertoire durch die Machtergreifung der Nazis weggebrochen ist, weil die künstlerisch Schaffenden jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung waren. Es ist wichtig, diese Kunst wieder lebendig werden zu lassen und diesen Menschen ein Podium zu bieten.

O&T: Sie sind Intendant eines Mehrspartenhauses, haben berichtet, dass Sie oft bei den Proben, immer bei den Endproben sind. Können Sie selbst noch genügend künstlerisch arbeiten?

Ritschel: Die künstlerische Arbeit ist Bestandteil dieses Arbeitsvertrags. Man hat bewusst mich als Intendanten gewählt, weil ich Regisseur, weil ich Ausstatter, weil ich Kostümbildner bin. Die Verantwortung für so ein 350-Leute-Haus ist immens. Deswegen muss man genau schauen: Wann setzt man seine Produktionen und wo kann man als Künstler arbeiten? Ich finde es tatsächlich ganz wichtig, mich künstlerisch zu äußern, auch in meiner Position als Intendant, weil ich dann sofort mit den Menschen agiere. Man sieht die Probleme, man sieht die Herausforderungen, und man kann dann sofort aktiv an Lösungen arbeiten.

O&T: Arbeiten Sie gerne mit Chören?

Ritschel: Ja. Chorarbeit ist eine meiner Leidenschaften.

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