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Schwerpunkt: Operette

Ironische Utopie

Eine kleine Kulturgeschichte der Operette

Von Stefan Frey

Was ist eine Operette?

„Eine Sache in drei Akten, wo die Damen in Musikbegleitung ihre Beine sehen lassen.“

So zumindest die Antwort von Thalia, Muse der Schauspielkunst und Erfinderin des „neuen Kunstgenres für das Theater“, in Franz Lehárs Antiken-Operette „Der Göttergatte“ von 1904. Sie will damit dem bankrotten Theaterdirektor Mäandros auf die Sprünge helfen, der dringend ein „Kassa-Stück“ braucht. Und so kommt Thalia auf die Operette – und liefert auch gleich eine schlüssige Definition des neuen Kunstgenres mit.

Ein halbes Jahrhundert früher sind weder Thalia noch Mäandros im Spiel, sondern ein anderer Theaterdirektor, der auf der Suche nach einem „neuen Kunstgenre“ die Operette findet: der Komponist Jacques Offenbach. Ihm geht es dabei weniger um ein „Kassa-Stück“ oder gar ein „neues Kunstgenre“ als um die Wiedergeburt der komischen Oper aus dem Geiste der „wirklich buffonesken, heiteren, geistreichen Musik, kurz der Musik, die Leben in sich hat“, wie er in seiner Selbstbiographie schreibt.

„Die schöne Helena“ am Theater Hagen 2022 (Inszenierung: Johannes Pölzgutter) mit Angela Davis als Helena und dem Damenchor des Theaters Hagen. Foto: Björn Hickmann

„Die schöne Helena“ am Theater Hagen 2022 (Inszenierung: Johannes Pölzgutter) mit Angela Davis als Helena und dem Damenchor des Theaters Hagen. Foto: Björn Hickmann

Und wo findet man diese Musik? Bestimmt nicht in der Oper – nicht in der staatlich kontrollierten Grand Opéra, auch nicht in der weniger reglementierten Opéra comique, die dem Komponisten bisher demonstrativ die kalte Schulter gezeigt hat. „Angesichts der dauernden Unmöglichkeit, aufgeführt zu werden“, entschließt sich Offenbach daher, „selber ein Musiktheater zu gründen“: die Bouffes Parisiens auf den Champs Élysées, mitten im Zentrum der pulsierenden Metropole Paris.
Und von deren Boulevards holt er sich die musikalischen Anregungen für sein Unternehmen, von den Vaudevilles, den Ballsälen. Hier tobt das Leben. Hier wird getanzt, und zwar Cancan – ein Tanz also, bei dem „die Damen in Musikbegleitung ihre Beine sehen lassen“ – und bei Offenbach eine wahre Höllenmusik. Sein „Galop infernal“ aus „Orphée aux enfers“ wird zum berühmtesten aller Cancans und zugleich zum musikalischen Emblem seiner Epoche. Und er besitzt unüberhörbar die zwei Eigenschaften, die Offenbach für das neue Genre fordert: „primitif et vrai“.

Für dieses neue, „einfache und wahre Genre“ spielt der Tanz von Anfang an eine zentrale Rolle. Denn getanzt wird immer zur aktuellen Unterhaltungsmusik der Zeit, und Etablissements wie das Moulin Rouge waren die Discos des 19. Jahrhunderts. Und diese höllische Unterwelt trifft bei Offenbach auf die himmlische Oberwelt der Oper. Die Operette ist ein stilistischer Bastard aus Hoch- und Straßenkultur, aus Oper und Tanz. Und so sind – nicht erst seit Johann Strauß, dem man das zeitlebens vorgehalten hat – die meisten Operettennummern nicht zufällig in Tanzrhythmen gehalten. Schon Offenbach entwickelt aus diesem Gegensatz von U und E seine dialektische Musikdramaturgie der stilistischen Brüche. Wie seine Librettisten die Heroen der Hochkultur, die olympischen Götter oder den mittelalterlichen Adel satirisch entlarven, indem sie diese in wenig heroische, durch und durch bürgerliche Zeitgenossen verwandeln, so entlarvt der Komponist die heroische Formensprache der Oper, indem er sie mit der Unterhaltungsmusik seiner Zeit konfrontiert, dem Tanz.

In der Operette wird über Krisen skrupellos hinweggetanzt.

Diese Brüche markieren den Wesenskern der ganzen Gattung, indem sie nicht nur die Heuchelei gesellschaftlicher Verhaltensregeln entlarven, sondern auch die sterile Absurdität ästhetischer Formeln wie der virtuosen Koloratur, die längst zum Klischee erstarrt sind. Es ist ein dialektischer Prozess der Demaskierung, den Offenbach hier in Gang setzt. Zum einen enthüllt er die geheimen Sehnsüchte der Bourgeoisie, zum anderen erfüllt er sie im Taumel des erotisch aufgeladenen Tanzes. Diese sowohl moralische als auch ästhetische Ambivalenz bleibt eine besondere Spezialität des Genres. Hier kommt die Unterwelt zu ihrem Recht, in die das Bürgertum ihr Triebleben verbannt hat. Und Offenbach öffnet ihre Pforten. Die unterdrückten erotischen Phantasien kehren wieder, in der Maske der Parodie, im Kostüm des Varietés, im Rhythmus des Tanzes.
So singt die griechische Hautevolee in seiner „Schönen Helena“: „Dansons, aimons, buvons, chantons!“ und zählt damit alle wesentlichen Ingredienzen des Genres auf: Tanz, Liebe, Alkohol und Gesang. Diese Aufforderung zum hedonistischen Eskapismus in den Rausch hat seitdem nichts von ihrer Allgemeingültigkeit verloren. Sie entspricht dem Lebensgefühl des zweiten französischen Kaiserreichs genauso wie dem des Publikums von Berlins Komischer Oper, wenn es heute Barrie Koskys Operetteninszenierungen bejubelt. Sie entspricht dem Genre Operette überhaupt.

Die „Fledermaus“ an der Staatsoperette Dresden in der Inszenierung der Intendantin Kathrin Kondaurow. Das Bild zeigt Marcus Günzel als Orlofsky und Mitglieder des Balletts. Foto: Pawel Sosnowski

Die „Fledermaus“ an der Staatsoperette Dresden in der Inszenierung der Intendantin Kathrin Kondaurow. Das Bild zeigt Marcus Günzel als Orlofsky und Mitglieder des Balletts. Foto: Pawel Sosnowski

Denn in der Operette wird über Krisen skrupellos hinweggetanzt. Offenbach als Zeitgenosse von Karl Marx durchschaute ebenso wie dieser die Scheinhaftigkeit der Herrschaft Kaiser Napoleons III. – allerdings tat es jeder auf seine Art. Während Marx schonungslos den skrupellosen Kapitalismus aufdeckt, der sich hinter der imperial-pompösen Maskerade verbirgt, gewinnt Offenbach dieser Desillusionierung dialektisch einen neuen Zauber ab. So kann er die Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs parodieren und zugleich bestens unterhalten. Für Walter Benjamin bestätigt die Operette damit Paris als „Kapitale des Luxus und der Moden. Offenbach schreibt dem Pariser Leben den Rhythmus vor, die Operette ist die ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals.“ Kollektiv stürzt sich das Operettenpublikum in diesen Strudel, sei es der des Pariser Lebens, der des Wiener Bluts oder der des Budapester Orpheums – mag auch „die ganze Welt versinken“, wie in Emmerich Kálmáns „Csárdásfürstin“. Je bedrohlicher die Katastrophe, desto vehementer werfen sich ihre Figuren ins Vergnügen. Der „Galop infernal“ wird zum „Dies irae“ der verdrängten Begierden. Lange vor der Psychoanalyse betreibt die Operette die „Enthüllung des Triebhaften“, wie es Victor Léon nannte, der Librettist der „Lustigen Witwe“ – und des „Göttergatten“.

Und damit zurück zu Theaterdirektor Mäandros. Auch er verlangt von der Operette „Pikantes – gewürzt mit einem kleinen Ehebruch“. Und genau das stellt ihm Thalia dann auch in Aussicht, nämlich Jupiters Affäre mit Alkmene, der sich der Göttervater bekanntlich in Gestalt ihres Gemahls Amphitryon nähert. Doch anders als bei Kleist schlägt Juno hier ihren Göttergatten mit dessen eigenen Waffen und verwandelt sich selbst in Alk-mene. Jupiters „kleiner Ehebruch“ wird so zum Seitensprung mit der eigenen Frau – eine gutbürgerliche Lösung von schönster Doppelmoral – und typisch für die Wiener Operette, in der das Triebhafte weniger direkt daherkommt als in Paris.

Schließlich betrügt auch in der „Fledermaus“ von Johann Strauß der Ehemann seine Frau mit ihr selbst. In der französischen Librettovorlage ist es selbstverständlich eine Maitresse. Sie trägt denselben Namen wie jene aus Offenbachs „Pariser Leben“: Métella. Und so gibt es in dieser Operette aller Operetten viele Verbindungen zwischen Paris und Wien, dem alten und dem neuen Zentrum des Genres. Pariser Weltläufigkeit und Wiener Schmäh machen „Die Fledermaus“ zum Muster der Wiener Operette schlechthin. Doch statt im rauschhaften Bacchanal wie bei Offenbach liegt bei Strauß die Erlösung im kollektiven „Duidu“ eines brüderlich-schwesterlichen Walzer-Finales, das pünktlich um Mitternacht endet.

Pariser Weltläufigkeit und Wiener Schmäh machen „Die Fledermaus“ zum Muster der Wiener Operette schlechthin.

Johann Strauß löst die Widersprüchlichkeit der Epoche nicht dialektisch, sondern psychologisch: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ – Trost für ein Publikum, das mit dem großen Börsenkrach von 1873 gerade die erste große Krise des Hochkapitalismus überstanden hat. Künstlerisch bewältigt werden kann diese Krise nur in einer Operette, in der nicht nur „Alles falsche Namen“ trägt, wie die Neue Freie Presse moniert hat, sondern geradezu demonstrativ eine Apotheose der Falschheit gefeiert wird. Da im scheinbar richtigen Leben alles falsch läuft, hilft nur mehr die Lüge weiter. Diese Operette ist ein Fest der Verstellung, der Maskerade, falscher Identitäten – und ihr Protagonist Gabriel von Eisenstein ist der Jedermann des Börsenkrachs, ein Profiteur der Gründerjahre mit dem damaligen Traumberuf Rentier: Er lebt von den Zinsen jenes Kapitals, dessen „dauernde Herrschaft“ die Operette als „ironische Utopie“ vorgaukelt.

Franz Lehárs „Lustiger Witwe“ schließlich ist es 1905 vorbehalten, die Utopie der Operette als Phänomen „dauernder Herrschaft des Kapitals“ international zu etablieren. Mit ihr wird das Genre in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg zu einem modernen Massenphänomen, zum Ausdruck eines epochalen Lebensgefühls – jenseits aller nationaler Grenzen. Ob in New York oder im afrikanischen Urwald, ob in einem Restaurant in Peking oder in einem Balkandorf, der Walzer aus der „Lustigen Witwe“ ist allgegenwärtig, nicht zuletzt dank des technischen Fortschritts und des Grammophons. Damit beginnt die Dominanz der Wiener Operette im 20. Jahrhundert. Nach Lehár feiern Oscar Straus mit dem „Walzertraum“, Leo Fall mit der „Dollarprinzessin“ und Emmerich Kálmán mit der „Csárdásfürstin“ Welterfolge. Als Vertreter einer neuen Komponistengeneration sprechen ihre Werke vor allem ein modernes Großstadtpublikum an, dessen kulturelle Identität nicht mehr nur von nationalen Traditionen, sondern vom bereits damals globalen Waren- und Bewusstheitsstrom geprägt ist.

Alles, was bisher gegolten hat, kommt in Bewegung. Soziale Ordnung, Geschlechterrollen und urbane Lebensmodelle werden neu definiert und codiert. Und die Operette wird zum Brennspiegel dieser Veränderungen, wie Thomas Manns Schwager Klaus Pringsheim 1912 feststellt: „Die Operette, eine Industrie, die tausende von Menschen ernährt, sollte sich’s wohl gefallen lassen, zu jenen Gebrauchsartikeln gerechnet zu werden, welche dem Bürger zur behaglicheren Ausstattung des täglichen Lebens dienen wie Warenhäuser, Automobile, sexuelle Aufklärung.“

Alles, was bisher gegolten hat, kommt in Bewegung. Soziale Ordnung, Geschlechterrollen und urbane Lebensmodelle werden neu definiert und codiert. Und die Operette wird zum Brennspiegel dieser Veränderungen.

Zwischen der Uraufführung der „Lustigen Witwe“ 1905 und jener der „Csárdásfürstin“ 1915 erlebt die Gattung eine nie wieder erreichte Konjunktur. Wie heute das englischsprachige Musical beherrscht die Wiener Operette die Bühnen der Welt. Der Operettenbetrieb weist dabei bereits alle Merkmale künftiger Popkultur auf – wie den Starkult, die Vorgabe aktueller Modetrends und eine ausgeklügelte Vermarktungsstrategie: von millionenfach verkauften Noten bis zur Nutzung der noch jungen technischen Medien Grammophon, Rundfunk und Film.

Die Komponisten hingegen verstehen sich zunehmend als Vermittler der damals beginnenden Trennung von U- und E-Musik. Nur eine Minorität des Publikums kann und will den radikalen Entwicklungen der ernsten Musik bis an die Schwelle zur Atonalität folgen. Die Majorität findet in der Operette einen hinreichenden Ersatz. So füllt das Genre eine Marktlücke aus, die damals erst im Entstehen begriffen ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich diese Lücke spürbar vergrößert und damit auch das Bedürfnis, sie auszufüllen. Zwar scheint die Operette nach dem Zusammenbruch von Europas alter Feudal-ordnung plötzlich obsolet geworden zu sein – zu eng ist sie doch mit dieser Welt der Uniformen, Abendroben, Federboas, Diademe und Monokel verbunden. Doch gerade diese Requisiten der Vergangenheit feiern in den 20er-Jahren einen anachronistischen Karneval mit den Accessoires einer überdrehten neuen Gegenwart der Girls, Eintänzer und Jazzbands. Was einst Cancan und Walzer waren, sind jetzt Tango und Shimmy, Foxtrott und Blues. Ein Musterbeispiel dafür ist Paul Abrahams Operette „Viktoria und ihr Husar“, deren Handlung alle Operettenklischees des Titels ad absurdum führt. Es ist die Geschichte eines treuen Husaren, der aus einem sowjetischen Gulag ausbricht, nach Tokio flieht und dort seine Jugendliebe Viktoria als Frau des amerikanischen Botschafters wiederfindet. Der daraus resultierende Konflikt ist der der Epoche: Altes gegen Neues, Europa gegen Amerika, Wiener Walzer gegen Jazz.

Besonders der transatlantische Kulturaustausch spielt eine zentrale Rolle, sowohl musikalisch als auch inhaltlich. Verarmte russische Großfürsten arbeiten jetzt in amerikanischen Autofabriken wie in Bruno Granichstaedtens „Der Orlow“, schicke Dollarmillionärinnen angeln sich einen verarmten Prinzen wie in Kálmáns „Herzogin von Chicago“. Zentrum dieser letzten Blüte der Gattung ist nicht mehr Wien, sondern Berlin, die neue Operettenmetropole. Hier sind die Widersprüche der 1920er-Jahre an einem Ort konzentriert – von panischen Verlustängsten bis zur hemmungslosen Vergnügungssucht. Das spiegelt sich in den zeitgenössischen Operetten. Hier werden politische Passivität und Resignation zum „Land des Lächelns“, Verlustangst und soziale Deklassierung zur „Gräfin Mariza“, Rebellion und Amüsement zur „Blume von Hawaii“.

Die Flucht in die Oberflächlichkeit, welche die Operette bietet, wird auch jetzt wieder zur ironischen Utopie. Als wäre die Weltgeschichte ein Tingeltangel, wird Madame Pompadour nach Berlin versetzt und Berlin an den Wolfgangsee. Dort, „Im weißen Rössl“, erlebt die Operette 1930 ihren letzten Höhepunkt als Revue mit satirischen Untertönen und theatralische „Vollillusion“ des Salzkammerguts mit Kuhstall und Kirche, Dampfschiff und Dirndl: „Siebenhundert Leute gehören dazu, um jeden Abend das Feuerwerk anzukurbeln; dreitausend Leute haben die Chance, hoffnungslose Optimisten zu werden“, berichtet Erich Burger im Berliner Tageblatt vom 10. November 1930.

Zum Optimismus besteht freilich wenig Grund. Nur drei Jahre später ist die „Vollillusion“ geplatzt. Wohl kaum ein Genre ist von der Rassenpolitik der Nazis so betroffen wie die Operette, sind doch die meisten ihrer Protagonisten Juden. Mit ihrer Vertreibung verliert das Genre Witz, Ironie und jene tiefere Bedeutung. Zurück bleiben Kitsch und Sentimentalität, die zwar seit jeher zum Genre gehören, doch nun – ihres Gegenpols beraubt – in Biederkeit umschlagen. Von diesem Traditionsbruch im Dritten Reich hat sich das Genre nicht mehr erholt und ihm seitdem seinen schlechten Ruf eingebracht.

Mittlerweile ist die Operette ein historisches Genre. Es gibt sogar eine historisch informierte Aufführungspraxis, die ihren damals aktuellen Gehalt in die Gegenwart retten will: die Modetrends, den Tanzstil, die Satire, die freche Spielweise, das Spiel mit Geschlechterrollen. Spätestens seit Barrie Koskys Intendanz an der Komischen Oper Berlin hat dies zu einer Renaissance geführt, die Hoch- und Popkultur augenzwinkernd verbindet. Schließlich ist die Operette noch immer eine „ironische Utopie“.

 

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