Was für ein bedeutendes Werk Glucks Iphigénie en Tauride ist, auch das war in Salzburg wieder einmal zu erfahren. Die Verrohungen des trojanischen Krieges wirken weiter, bis ins Familiäre hinein. Um überhaupt zum Kriegsschauplatz gelangen zu können, musste Agamemnon die eigene Tochter als Blutopfer darbringen. Die grausige Tat zerstörte Seelen und Herzen der Menschen. Zwar wurde Iphigenie von der Göttin Diana gerettet und als Priesterin im Tempel auf Tauris eingesetzt. Doch auch hier wird sie von der Vergangenheit eingeholt: der König von Tauris, Thoas, verlangt von ihr ein furchtbares Opfer: Orest, den eigenen Bruder. Der Regisseur Claus Guth demonstrierte, dass sich hinter der klassizistischen Fassade des Werkes ein erregendes Menschendrama vollzieht. Puppenspieler mit überdimensionalen Kopfmasken spielen die vorangegangenen Geschehnisse in die Operngeschichte ein: Ein blutiger Albtraum umstellt die drei Hauptfiguren des Dramas. Susan Graham in der Titelpartie ist als Erscheinung und Sängerin grandios, Thomas Hampson und Paul Groves als Oreste und Pylade stehen ihr kaum nach eine Luxusbesetzung. Und Ivor Bolton befeuerte das Mozarteumorchester mit einer Energie, dass selbst Gluckexperten fassungslos konstatieren mussten, die tauridische Iphigenie noch nie so dramatisch bewegt und erregend vernommen zu haben. Auch hier glänzte wieder der Wiener Staatsopernchor mit Klangfülle und beseeltem Ausdruck (Einstudierung Donald Palumbo). Der dritte Blick zurück auf Troja und die Folgen: Mozarts Idomeneo. Die Inszenierung von Ursel und Karl-Ernst Herrmann, mit Michael Gielen als Dirigent der Camerata Academica Salzburg, wurde in Salzburg für das Kleine Festspielhaus erarbeitet. Seit ihrer Inszenierung von Mozarts La Clemenza di Tito anno 1982 in Brüssel, ihrer ersten Operninszenierung überhaupt, sind die Herrmanns mit der Arbeit Gérard Mortiers eng verbunden. Der damals für den Titus entwickelte Stil ein fein ziseliertes psychologisches Spiel aus Gesten, Gebärden, Bewegungen, Körperhaltungen, die seelische Vorgänge im Innern der Personen sichtbar machen findet sich auch im Idomeneo wieder: Sensibles Figurenspiel, deutliche Positionierungen, scharfe dramatische Belichtungen, Klarheit des Spielraumes mit seinen Farben, Lineaments, Zeichen. Michael Gielens Dirigieren vollendet die Einheit von Szene, Spiel, Gesang und Orchester. Das Ensemble mit Vesselina Kasarova als Idamante, Dorothea Röschmann als Ilia, Jerry Hadley in der Titelpartie, Lubica Orgonasova als Elettra und Matthias Klink (Arbace) präsentierte sich geschlossen, war von hoher Festspielqualität. Tadelsfrei auch der von Howard Arman einstudierte Salzburger Bachchor. Zu den Tragödien um Troja gehört auch die Satire: Jacques Offenbach komponierte sie 1864 auf ein Libretto Henri Meilhacs und Ludovic Halévys. Die antiken Helden und die Femme fatale namens Helena schlüpften ins Kostüm des zweiten Kaiserreichs und verspotteten das amouröse Lotterleben hinter den fein angestrichenen gesellschaftlichen Kulissen. Wernicke positioniert die Geschichte in unseren Jahren: die Sozietät der Mächtigen benimmt sich immer gleich, springt in die und aus den Betten, und gelegentlich auch einmal an die Front zum schnellen Krieg: Ein Kindergarten für Erwachsene, folglich fährt am Ende eine Spielzeugeisenbahn quer über die Vorderbühne, beladen mit Panzern und der Miniatur des hölzernen Pferdes aus der Berlioz-Oper. Dazu plantschen die Heerführer und Politiker in einem Bassin bis zur totalen Verblödung, von der vor allem der gehörnte Menelaos befallen ist: Dale Duesing ist in seinem Komiker-Element. Eine Augen- und Ohrenweide: Nora Gubisch als Helena, ein tragikomisches Juwel: Buddy Elias als Calchas, vom Orakel zum Butler beim Dinner for one degradiert. Das reduzierte Orchester steuert unter Stéphane Petitjeans Leitung freche, angespitzte Klänge und schön formulierte Melodien bei. Fazit: Operettenwitz der besseren Art, abgeleitet aus Werkkenntnis und der genauen Beobachtung unserer Zeitgenossen. Ein wirkliches Satyrspiel zu Berlioz Les Troyens. Natürlich gehören auch Tristan und Isolde und mehr noch Don Giovanni in die Eros-und-Thanatos-Thematik, himmelstürmend und nächtlich sich auflösend die erste, gewalttätig und zur Hölle fahrend die zweite Liebessehnsucht. Klaus-Michael Grübers Tristan-Inszenierung gewann unter der neuen musikalischen Leitung mit Lorin Maazel und den Wiener Philharmonikern (statt den Berlinern bei den Osterfestspielen im Vorjahr) an musikalischer Geschmeidigkeit und expressiver Eleganz des Singens (Waltraud Meier, Jon Fredric West, Matti Salminen). Luca Ronconis Don Giovanni-Darstellung (das Don-Giovanni-Personal in einem modernen Klang-Zeit-Raum, in dem die Figuren sichtlich gealtert ihr Ende erleben), profitierte von der Vitalität des neubesetzten Titelhelden mit Ferruccio Furlanetto, während dem neuen Dirigenten der Aufführung, Valerie Gergiev, nach furioser Ouvertüre im Voranschreiten der Handlung nichts Aufregendes mehr gelang: Eine Enttäuschung trotz Wiener Philharmonikern. Cosí fan tutte oder Die Blumen des Bösen: Hans Neuenfels entdeckte hinter der Komödienfassade der Oper die surrealen Abgründe. Giftige Blüten, gemeine Insekten, wilde Hunde (in Gestalt zweier erniedrigter Mannsbilder, die Fiordiligi hereinführt) spielen mit im Quidproquo der bösen Liebe. Wers nicht vorher gelesen hat, könnte meinen, in einem Bunuel-Film zu sitzen. Auf die Liebesprobe werden hier nicht die Frauen und auch nicht die Männer gestellt, vielmehr die Liebe selbst. Liebe nicht, wie man sie heilt, sondern wie sie zum Verschwinden gebracht wird. Das wird von Neuenfels mit unerschöpflicher Fantasie, überbordender Theatralik und großem Frage-Ernst virtuos durchgespielt, wobei die vorherige Kenntnis der Oper das Vergnügen an der neuen Deklination erheblich steigert. Glänzend gesungen von Karita Mattila (Fiordiligi), Vesselina Kasarova (Dorabella), Maria Bayo (Despina), Rainer Trost (Ferrando), Simon Keenlyside (Guglielmo) und Franz Hawlata (Don Alfonso in Neuenfels-Maskierung) und dirigiert von Lothar Zagrosek (mit den Wiener Philharmonikern) konnten die Festspiele einen bemerkenswerten Mozart-Erfolg für sich verbuchen, was in der Mortier-Ära nicht immer der Fall war. Zu einem eindeutigen Publikumserfolg gelangte auch die Uraufführung von Kaija Saariahos Oper Lamour de loin, wohingegen die kritischen Beurteilungen stark voneinander abwichen. Auf ein Libretto von Amin Maalouf schrieb die finnische, in Paris lebende Komponistin die Geschichte einer märchenhaften Fernliebe aus dem 12. Jahrhundert: Der provencalische Troubadour Jaufré Rudel steigert sich in eine ferne Liebe zu der im morgenländischen Tripoli lebenden Clémence, die er nur durch die Erzählungen eines Pilgers kennt. Als er sich entschließt, die ferne Geliebte zu besuchen, erkrankt er auf der Überfahrt und stirbt in den Armen von Clémence: Ein zweiter Liebestod sozusagen. Kaija Saariaho wurde zu ihrer ersten Oper durch den Besuch von Messiaens Franziskus-Oper 1992 in Salzburg angeregt. Im Gestus von Lamour de loin lassen sich deshalb gewisse Animationen durch Messiaens Werk feststellen. Auch liegt als Vorbild ein Vergleich mit Debussys Pelléas et Mélisande nahe, doch Saariahos Musik bleibt in Duktus und Ausdruck über weite Strecken doch gar zu eindimensional, um das Reflexionsniveau der genannten Vorbilder überhaupt auch nur annähernd zu erreichen. Eher scheint ihre Musik von den Spektralisten, von Grisey oder Murail, beeinflusst, und die Nähe zum Ircam-Computer mag auch nicht für besondere Originalität gesorgt haben. Die Inszenierung von Peter Sellars in der Felsenreitschule mit den beiden gläsernen Türmen für die fernen Liebenden (Bühnenbild George Tsypin), dem spiegelnden Wasser dazwischen und dem schwarzen Nachen, mit dem der Troubadour (Dwayne Croft) schließlich zur Überfahrt nach Tripoli aufbricht, konnte solange gefallen, bis sich der Sterbende mit der in diesem Augenblick nahen Geliebten vereint: Da versinkt die Inszenierung in einem planen, anekdotischen Realismus, aus dem auch die wunderbar singende Dawn Upshaw als Clémence, Kent Naganos spürbares Engagement (mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg) und der seitlich postierte Arnold-Schönberg-Chor (Leitung und Einstudierung: Erwin Ortner) keinen Ausweg mehr zeigen. Um mit einem Octavio-Paz-Zitat zu enden: Die Geschichte der höfischen Liebe , ihrer Wandlungen und Metamorphosen, ist nicht nur die unserer Kunst und unserer Literatur, sie ist auch die Geschichte unserer Sensibilität und die Geschichte der Mythen, die seit dem 12. Jahrhundert bis in unsere Tage die Fantasie entflammt haben. Sie ist die Geschichte der Zivilisation des Okzidents. Vielleicht hätten Auden und Henze dies in ihren besten Augenblicken gestalten können, vielleicht sogar schon Benjamin Britten oder in unseren Tagen Salvatore Sciarrino. Kaija Saariaho umhäkelt den Stoff, sie ergreift ihn nicht: Mit der Gewalt des autonomen Künstlers, der hier gefordert wäre. Gerhard Rohde
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