Der künstlerischen Kreativität hat die lange Bauphase nicht geschadet. Gespielt wurde im intimeren „Kleinen Haus“ oder in der neu errichteten Spielstätte, deren Konzeption einer Auseinandersetzung mit den baulichen Gegebenheiten der 60er- und 70er-Jahre entsprang und das Theaterprovisorium in der Tiefgarage platzierte. Technisch genügt das Große Haus nach einer Fülle von Neuerungen höchsten Ansprüchen, denn es bietet nicht nur exzellente künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten, sondern auch gute und sichere Arbeitsbedingungen. Am Eröffnungsabend waren bemerkenswerte licht- und bühnentechnische Effekte zu sehen. Bei dieser ersten Musiktheater-Aufführung im neuen Haus entschied sich Intendant John Dew nicht für ein „sicheres“ Paradestück, sondern für das künstlerische Experiment, darin guter Darmstädter Tradition folgend. Er verband Leos Janáceks selten gespielte Oper „Schicksal“ (Osud) mit Hector Berlioz’ lyrischem Monodrama „Lélio oder Die Rückkehr ins Leben“, einer Mischung aus gesprochenen, gesungenen und instrumentalen Stücken, die der Komponist als Fortsetzung seiner „Symphonie fantastique“ schrieb. Von Künstlern und vom Spannungsverhältnis ihrer Biographie zu ihrem Werk handeln beide Stücke, und als Klammer hat sich Dew eine Künstlergestalt ausgedacht, die von Anfang bis zum Ende auf der Bühne präsent ist, kostümiert als Doppelgänger des Komponisten Zivný aus Janáceks Oper. Er ist Zivnýs künstlerisches Alter Ego, das die biographischen Wirrnisse überstehen und in dem als Fortsetzung gedachten Werk Berlioz’ durch die Kunst zu neuem Leben erweckt werden wird. Vorerst aber trifft Zivný Mila wieder, seine große Liebe und Mutter seines Sohnes. Er lebt mit ihr, bis der Irrsinn von Milas Mutter – eine von Janáceks Bösen Müttern – diese selbst und die Tochter in den Tod reißt. Zivný ringt bis zum Ende seines Lebens um die Vollendung seiner Oper, die sein eigenes Leben erzählt, und bricht schließlich unerlöst zusammen, als er die Stimme der toten Mila zu hören glaubt. In „Lélio“ erwacht er dann in der Gestalt des Doppelgängers aus seinem Traum, setzt sich an den Flügel, der trotz der Wechsel des Bühnenbildes stets in dessen Zentrum verbleibt, um in den Erzeugnissen seiner künstlerischen Phantasie neues Leben zu erlangen. Dieser aus der Romantik stammende Gedanke einer Wiedergeburt des Lebens durch die Kunst realisiert sich in monologisch gesprochenen Reflexionen und in den poetischen Phantasien Lélios. Trotz dieses interessanten Konzeptes wird die rechte Freude immer wieder gestört durch Misstöne und Missgriffe der Regie. Die Bewegungen auf der Bühne sind, besonders im Opern-Teil, unbeholfen und unkoordiniert, wollen vielleicht die Sperrigkeit der Figuren deutlich machen, wirken aber einfach ungekonnt. Sängerisch verleiht Norbert Schmittberg der Figur des Zivný zwar eine beachtliche Bühnenpräsenz, doch die Stimme ist in der Höhe allzu gepresst. Yamina Maamars Mila klingt stumpf und forciert. Die unselige Mutter dagegen, gesungen von Sonja Borowski-Tudor, gibt mit gerundeter, glasklarer Stimme untheatralisch-nüchtern und in sparsamen Gesten das Bild zunehmenden Wahnsinns. Lélios Reflexionen und Assoziationen werden gesprochen von Hans Matthias Fuchs. Zu sehen und zu hören ist hier ein Kunstschmerzensmann, kein entfesselter Prometheus. In den Szenen, die Lélios künstlerische Imagination schafft, kommen dann endlich Theater und Augenlust zum Zuge, gelingen John Dew und dem Bühnenbildner Heinz Balthes überzeugende Bilder: wenn auf der Bühne plötzlich die pittoresken Gestalten einer Räuberbande durcheinanderwirbeln oder wenn das bunte Gewimmel des Lebens in einer vorzüglichen, auf klassischen Grundelementen beruhenden Choreografie Mei Hong Lins über den Künstler hereinbricht und ihn mit fortreißt. Glanz gewinnt dieser Abend durch die Musik. Die Partitur der Oper stellt hohe Anforderungen nicht nur an die Sänger, sondern auch an Streicher und Bläser. Das Orchester des Staatstheaters unter der Leitung von Stefan Blunier breitet virtuos den kleingliedrigen Klangteppich von Janáceks Komposition aus. Es gibt in diesem selten zu hörenden Werk den Janácek der späteren Jahre quasi in nuce zu entdecken. In hörbarem Kontrast zu dieser dramatischen, aber gänzlich unromantischen Musik steht dann die überbordende Phantastik und das Klangfarbenspiel der Gefühlswelt in der Musik Berlioz’. Beide Klangwelten, prononciert und in hoher Klangqualität von Orchester und Chor hingezaubert, bildeten das solide Unterfutter dieser kontroversen Inszenierung, die gleichwohl im besten Sinne „zu denken“ gibt. Rotraut Fischer |
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