Auf diesem Werk lastet von jeher das vereinfachende Schlagwort von der Musizieroper oder – vornehmer ausgedrückt – von der Autonomie der Musik gegenüber Wort und Szene: Gänzlich unbeeindruckt vom Bühnengeschehen, so will es das Vorurteil, schnurre im Orchester der Automatismus einer freilich virtuos beherrschten Fugentechnik ab, die sich jeglichen psychologisierenden Kommentar zur Handlung oder gar deren Illustration versagt. Solche Zuschreibungen erwecken bei vielen Zuhörern die Schreckvorstellung von einer trocken-spröden Kunstübung, der gerade das abgeht, was die meisten Menschen am Musiktheater berührt und bewegt: zuspitzende Dramatik, seelische Vertiefung und überhöhende Emotionalität. Es ist nun das besondere Verdienst der Braunschweiger Neueinstudierung, die immense Bühnenwirksamkeit, ja Theatervitalität des „Cardillac“ freizusetzen – doch geschieht dies, indem man gerade den konstruktivistischen Charakter des Stücks hervorhebt. Dirigent Sebastian Beckedorf und das Staatsorchester Braunschweig musizieren die hitzig drängende Motorik, den kraftvollen rhythmischen Furor und den ganzen hypertrophen Formenbau der polyphon verästelten Partitur mit Drive, Vehemenz und bewundernswerter Präzision in den instrumentalen Details. Dabei werden die stilistischen Eigenheiten der Musik als Ausdruck eines veränderten Aggregatszustandes in der Darstellung menschlicher Gefühle fassbar. Letztere sind im „Cardillac“ nicht mehr die Keimzellen einer individualistischen Gemütskultur der Innerlichkeit, sondern sie bieten sich als ein gleichsam energetisches Quantum dar, das als namenlose, wahnhaft-superlativische Angstintensität auf alle Figuren überspringt und somit eine ganze Gesellschaft fest im Griff hat. Beckedorf und das vielfach solistisch geforderte Staatsorchester erschließen aus den Notenwerten also das Abbild einer aus den Angeln gerissenen, sich im Sturz befindenden Welt. Auf der Bühne wird der Chor zum Träger solch düsterer, ebenso archaischer wie moderner Endzeitstimmung. Von Beginn an überzeugt der von Johanna Motter umsichtig einstudierte Chor durch die wuchtige, aber nicht zu plakativ aufgetragene Dynamik der Unisono-Blöcke, steigert sich sogar noch zu grandiosem Format bei der klaren Durchlichtung der feinädrigen mehrstimmigen Satzstrukturen und findet schließlich für die Finalapotheose mit ihrem atmosphärischen Vorgriff auf die Musiklandschaft des „Mathis“ die dafür erforderliche ganz neue Stilebene eines nun innerlich ergreifenden und bewegenden Klangs. Jan Zinkler gibt einen überaus impulsiven Cardillac, verkörpert glaubwürdig zwanghafte Getriebenheit und Dämonie, während sein vokales Portrait die düstere Dramatik der Titelpartie hingegen noch nicht ganz ausschöpft. Für eine mehr als respektable Ensembleleistung stehen beispielhaft Rebecca Nelsen als Tochter mit der gläsernen Transparenz ihres zu keinem Zeitpunkt ins diffus Gefühlige abgleitenden, aber gleichwohl warmen Soprans und Susanna Pütters, die nicht nur im Vokalen die Partie der Dame mit unwiderstehlich kühler Noblesse ausgestaltet. Unter großen wie kleineren Theatern ist in den letzten Jahren eine Tendenz zur Mehrfachverwertung von Inszenierungen erkennbar. So ist auch Klaus Weises Regie die Reprise seiner schon vor drei Jahren am Theater Bonn gezeigten Deutung. Minutiös arbeitet Weise die dialektische Beziehung zwischen dem Volk und Cardillac heraus. In den choreografisch ausgefeilten Menschenballungen trägt die Masse überdimensionierte Gesichtsmasken wie Schutzschilde vor sich her. Weises Sicht auf Cardillac ist von spürbarer Sympathie geprägt. In einer Zeit, in der alles und erst recht die Kunst zur Ware wird, erscheinen dem Regisseur Cardillacs Morde an den Käufern seiner Produkte wie ein Aufschrei gegen eine durchökonomisierte Welt. Aus dem Blickfeld gerät dabei allerdings, dass die Unbedingtheit, mit der Cardillac die Autonomie seiner Kunst oder seines Handwerks bis hin zum Kapitalverbrechen verteidigt, von dem brutalen Ausschließlichkeitsanspruch der Ökonomie und ihrer Sozialgleichgültigkeit, die nur noch die „Moral“ der Geschäftsprinzipien gelten lässt, im Ergebnis gar nicht so weit entfernt ist. Beide gehen sie über Leichen. Christian Tepe |
|||||||||||||||||||||||||||||||||||
|
|