Dresden ist anders, sonnt sich lieber barock und pflegt modernes Singen heldenhaft bis hin zu Richard Strauss. Exzeptionelle Tage der zeitgenössischen Musik erfüllen eher die Funktion, auf Fehlendes hinzuweisen. Der Ansatz dieser Chorwerkstatt nun ließ aufhorchen und gar auf künftige Wege, neue Denkansätze, unbekannte Gedanken hoffen. Beschworen wurde jedoch auch hier erst einmal wieder das Vergangene, was in diesem Kontext jedoch nicht überrascht, da heutige Chormusik und deren Pflege nun mal zuvörderst aus dem 19. Jahrhundert resultieren. Die damaligen Singebewegungen schufen tragfeste Grundlagen für gegenwärtigen Gruppengesang, erlebten in ihrer Geschichte Missbrauch und Lebensrettung auch unabhängig davon, ob Kammerkonzert oder Massenchöre erklangen. Selbst die Fischer-Chöre kamen – in einer Chorwerkstatt für Neue Musik eher untypisch – zu ihrem Recht und wurden gar nicht einmal arg desavouiert, sondern erhielten etwas gönnerhaft – denn sympathisch sind sie ja doch?! – Daseinsberechtigung erteilt. Wo man singt, da lass‘ dich ruhig nieder? Neue Chormusik in der PraxisNein, ganz so einfach haben es sich die klug arrangierenden Veranstalter denn doch nicht gemacht, sondern geradewegs auf das Entstehen und Erklingen von Neuem gezielt. Fünf Tage lang galt das Augenmerk dem Gruppengesang im Heute, wurde theoretisch und praktisch über die aktuell gegebenen Möglichkeiten des Genres und der unterschiedlichsten Ensembles doziert und probiert. Das Ergebnis – nach Symposien zu „Chormusik im 20. und 21. Jahrhundert“, zu „Musikalischer Intention und Klangsuche“ sowie zu „Transkription und Interpretation“, nach Komponistenporträts und öffentlichen Proben – gipfelte in einem Abschlusskonzert mit gleich vier Uraufführungen nebst Werken von Berio und Brahms, Gottwald, Lachenmann und Schwitters. Einmal mehr durfte sich da der erst kürzlich eröffnete Neue Konzertsaal der Hochschule als architektonisch und akustisch gediegen erweisen. Ein klingender Lichtblick! Gute Ergebnisse in kleinem KreisSolcherlei Novitäten haben es, siehe oben, im der Traditionskultur verbundenen Dresden selbstredend nicht leicht. So fand diese Chorwerkstatt denn auch nahezu ausschließlich im Kreis der Initiatoren und Mitwirkenden statt. Der Mangel an öffentlichem Interesse schmälerte weder den sinnvollen Ansatz noch die kurzweilige Umsetzung. Insbesondere Jörn Peter Hiekel (Leiter des Instituts für Neue Musik an der Dresdner Musikhochschule) sowie Hans-Christoph Rademann (Chefdirigent des RIAS-Kammerchors und Leiter des Dresdner Kammerchors) machten sich um Fortbestand und Identitätsfindung der Gattung verdient. Mit dem Komponisten Helmut Lachenmann („Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“) hatten sie sich zudem einen erprobten Praktiker ins Boot geholt, der aus eigenen Erfahrungsschätzen anregend zu plaudern verstand. Ausgerechnet er war es denn auch, der aufgrund eines glücklich überstandenen Doppelinterviews mit Gotthilf Fischer dessen Unterhaltungserfolge in die Debatte warf. Erklärtes Ziel der Werkstatt war freilich die klingende Musik. Im Programm des Abschlusskonzerts wurde der Arbeitstitel „Chormusik im 20. und 21. Jahrhundert“ nachdrücklich gespiegelt. Neben den genannten (Alt-)Meistern waren es (Jung-)Komponisten wie Reiko Füting (geboren 1970), Karsten Gundermann (geboren 1966), Florian Heigenhauser (geboren 1963) und Alexander Keuk (geboren 1971), die sich jeweils mit einem Chorwerk von Johannes Brahms beschäftigten, das wundersame Vineta-Thema in je eigener Ausprägung deuteten und den Werkstattteilnehmern im gemeinsamen Probenprozess tieferen Einblick ins Schaffen ermöglichten. Allein dies – und die rar gewordene Chance gründlichen Annäherns an Neue Musik – ließ bereits vor dem Ende der Ersten Dresdner Chorwerkstatt auf Fortsetzungen hoffen. Michael Ernst
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