„Für Engländer ist Macbeth ein Fluch“, sagt Till, „der Name bringt Unglück.“ Und worum geht es? „Mord und Totschlag und Hexen und so.“ Ein schottischer Heerführer ermordet, angestachelt vom Ehrgeiz seiner Frau, den König, wonach er mit Gespenstern spricht und von seinem Freund getötet wird. Nicola, der Fußball mag und Computerspiele, hat schon einen Film gesehen. Der versetzt die Handlung ins Mittelalter, es gibt Kämpfe und Blut. „Das finde ich schön“, sagt Nicola und grinst, weil er weiß, dass seine Lehrerin das nicht hören will. In fünf Stunden wird er anders denken. Eine andere Welt Till und Nicola gehen in die neunte Klasse der Caspar-David-Friedrich-Realschule
im Plattenbauviertel Marzahn-Hellersdorf. Am Nachmittag wird die Klasse
die Staats- Die meisten Schüler besuchen zum ersten Mal die Oper. Ein Ausflug in eine andere Welt. So klingt es jedenfalls, wenn man fragt, was sie vom Nachmittag erwarten. „Spannend“ soll es werden, „nicht anstrengend“ und „Hauptsache, kein Unterricht“. In eineinhalb Jahren werden sie ihren Abschluss machen, „wenn dit jutjeht“, und Köchin werden, Sekretärin, Pferdewirtin und Polizistin. Die Jungs wollen zur Bundeswehr und danach als Elektroinstallateur oder Kfz-Mechaniker arbeiten. Sie haben eine konkrete Vorstellung davon, wie ihr Leben einmal sein wird. Vor dem Fenster der Bahn verändert sich die große Stadt: Hochhausketten, Gestrüpp, ein Kirchturm, wieder Plattenbauten, das Rote Rathaus, der Fernsehturm. Keiner schaut hinaus. Die Jungs stehen an der Tür, die Mädchen verteilen sich paarweise im Wagen, junge Frauen mit getuschten Wimpern und Glitzerlidschatten unter angeschrägten Ponys. Sie fotografieren einander mit ihren Handys. Skepsis vor dem NeuenAnnette Pfohl, die Lehrerin, trägt die Haare blond und kurz, alles andere, das sie anhat, ist schwarz. Anfangs war sie skeptisch, ob der jahrhundertealte Stoff ihre Schüler interessieren könnte. Dann ließ sie sich überzeugen von den Theaterpädagogen. Es gehe um Gier, um Macht, um Werben und Umwerben. „Das sind Ansatzpunkte, die junge Menschen ansprechen können“, sagt sie. Manche hat es offenbar nicht angesprochen. Fünfundzwanzig sollten mitfahren, sechzehn sind gekommen. Noch am Vormittag haben Schüler Entschuldigungen mitgebracht. Eine Mutter schrieb, ihr Kind müsse lernen; es habe keine Zeit für Oper.
Vor dem Intendanz-Gebäude wartet der Musiktheaterpädagoge, ein schmaler Mann mit kurz rasiertem Haar und einer Hornbrille, wie sie die Kreativen in Großstadtcafés tragen. Er stellt sich als Rainer O. Brinkmann vor; die Schüler dürfen ihn Rob nennen. Manche machen Fotos, manche knuffen sich. Rob bittet sie, leise zu sein, als sie zwischen Kabeln und Gittern unter der Bühne hindurch ins Opernhaus gehen und kurz in die Zuckertortenausstattung des Zuschauerraums dürfen. Ihre Blicke tasten Gips, Gold und künstliche Kerzen an den Rängen ab. Rob erklärt, dass man die Bühne mehrmals am Tag umbaue, die Bühnenbauer in Schichten zum Dienst kämen, um sechs Uhr die erste, und der netzartige Vorhang zu „La Traviata“ gehöre. Es bleibt still. Dann fällt Till doch eine Frage ein, man weiß nur nicht, ob die Antwort ihn auch interessiert. „Wie putzt man den Lüster?“ Rob lächelt kurz. „Ach ja, unser fliegendes Personal.“ Nein, nein, der Lüster werde heruntergelassen wie früher, als man vor Vorstellungsbeginn die Kerzen einzeln löschte. PublikumsorientierungIn der „Konditorei“, wo das Opernpublikum zwischen Spiegeln und Goldtapete am Abend in der Pause Sekt trinkt und Lachshäppchen isst, sind Stühle im Halbkreis aufgereiht. Die Schüler sollen sich den Raum in eine Bühne umdenken. Auf dem Steinboden zwischen den Pfeilern entsteht ein Orchestergraben, der die Bühne vom Zuschauerraum trennt und die Würde der Rolle vom „Privatsein“, wie Rainer Brinkmann es ausdrückt. Er lehnt an einem Pfeiler und gibt Anweisungen. „Fall nicht in den Orchestergraben!“, ruft er, wenn ein Schüler zu dicht an die imaginäre Grenze zum Zuschauerraum herankommt. Und: „Erst lachen, wenn du abtrittst. Lachen heißt, privat zu sein, das will der Zuschauer nicht sehen.“ Er wird es oft sagen, manchmal sehr laut, aber immer geduldig, immer ernst. Bevor sie entscheiden, ob sie Lord oder Lady Macbeth, Macduff oder Duncan, Hexen, Diener oder Wachen sein wollen, setzen je vier Schüler Masken auf, weiße, strenge Gesichter. Die anderen spielen Publikum. „Auftritt Edelfrauen!“, kommandiert Rob. „Spot an!“ Die vier frieren die Bewegung ein wie früher beim Kindergeburtstag, wenn beim Tanzen plötzlich die Musik ausging. Da ist ein Knicks zu erkennen, dort ein abgespreizter kleiner Finger, und einer hat sich getraut, mit einem Schwung die Hüfte zur Seite zu kippen. Dem Nächsten will nichts einfallen, er zappelt. „Ich kann das nicht“, stöhnt es. Rob ruft: „Haltung! Und danke.“ Das Publikum darf klatschen, die Maskenträger schleppen sich zu ihren Stühlen. Es folgen Ritter, Diener, Mörder. Applaus. Dazwischen Fotos, Kichern, Maulen. Aber niemand weigert sich mitzumachen. Das gebe es manchmal auch und breite sich wie ein Feuer unter den Schülern aus, erzählt Rainer Brinkmann während einer kurzen Pause in der Kantine, die in der Staatsoper Casino heißt. Balletttänzer schweben vorbei, ätherische Wesen, die sich von Kaffee ernähren. Die Mädchen sitzen an einem Ende des Raumes, die Jungs am anderen. Brinkmann klingt wie ein Psychologe, wenn er erzählt, wie er zurzeit täglich Teenager-Horden für Oper zu begeistern versucht. Aber vielleicht muss jeder, der am Theater arbeitet, ein bisschen Psychologe sein. Oberstufenschüler gingen die Rollen analytisch an. Sie wüssten, was die Lehrer von ihnen hören wollen. Andere finge man über die Emotion. „Alle haben Angst, von sich etwas zu veröffentlichen“, sagt Brinkmann schließlich. „Sie müssen sich eben überwinden.“ Das gehe am besten, wenn die Schüler keine Zeit haben, ihre Außenwirkung zu testen. RollenspieleNach der Pause verwandeln sie den Spiegelsaal in ein Brueghel‘sches Wimmelgemälde, es fehlt allein das Dorfidyll. Jeder hat sich ein Kostüm ausgesucht, Seidenkleid mit Schleife, Rotkäppchen-Cape, Schlapphut, Uniformmütze, Kopftuch. Sie schlurfen, stolzieren, humpeln durch den Raum. Spiegel und Fotohandys bleiben unbeachtet. Rob teilt weiße Karten aus. „Du bist 35 Jahre alt“, steht auf einer. „Wenn du aus der Schlacht zurückkehrst, erwartet dich in deinem Schloss deine Gattin. Du liebst sie, weil sie so ehrgeizig und zielstrebig ist.“ Das ist Macbeth. Ihn gibt es vier Mal, dazu zwei Lady Macbeths, mehrere Banquos, Wachen und drei Hexen. Jede Figur hat einen Satz, der unten auf der Karte steht, und die Schüler nuscheln diese Sätze jetzt vor sich hin, gleichzeitig. „Was geschehen ist, ist geschehen.“ – „Nun kocht und schmort und brodelt es im Hexenkessel.“ – „Nun liegt er in seinem Blute.“ Es folgt das, was der Musiktheaterpädagoge „szenische Interpretation“ nennt: spontanes Theater im Zeitraffer. Rob positioniert sich im imaginären Orchestergraben und treibt die Handlung voran, den Text müssen die Schüler selbst erfinden. Wenn Lady Macbeth den Festgästen erklärt, weshalb ihr Mann mit Geistern spricht, hört sich das dann so an: „Sie wissen ja, die Tabletten mit den Nebenwirkungen.“ Und zu sich: „Scheiße, warum haben wir ihn umgebracht!“ Aus dem CD-Spieler schallen finstere Töne von Verdis Oper Macbeth und kündigen den Tod an. Nicola trägt als Macduff Jeans und Turnschuhe zu einem Jackett mit überdimensional breiten Schultern. Bedrohliche Kontrabässe. Er zückt die Eisenstange und rammt sie Macbeth unter die Achsel. Vorbildlich sackt Jule in die Knie und kippt zur Seite. Ein bisschen Geisterbahn. Dann lässt Nicola den Arm sinken. „Der bringt tatsächlich seinen besten Freund um!“, sagt er plötzlich.
Carolin Pirich |
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