Die große Bausch, Erfinderin des Genres Tanztheater und Jahrhundertkünstlerin, ist tot. Ein zu überraschender Abschied – schien diese immer etwas melancholisch-herbe Frau in ihrer spartanischen Lebensweise doch nie anfällig für Krankheiten. Pro Saison ein neues Stück, an dem bis zum Premierenvorhang gefeilt wurde, die Wiederaufnahmen, die minutiösen Proben, die kraftheischenden Welttourneen, auch noch jährlich ein großes Tanzfestival, dieser ganze Kraftakt schien so selbstverständlich wie der Jahreswechsel. Nach der Premiere ihrer letzten Kreation am 12. Juni im Opernhaus Wuppertal-Barmen habe sie sich erschöpft gefühlt. Am 30. Juni, nur fünf Tage nach einer Krebsdiagnose, stirbt sie. Am 27. Juli wäre sie 69 Jahre alt geworden. Zum Arzt sei Pina nur ungern gegangen, schreibt Jo Ann Endicott, drei Jahrzehnte lang eine ihrer markantesten Tänzerinnen und zuletzt ihre Assistentin, in ihrem heuer erschienenen Buch „Warten auf Pina“ (s. unsere Rezension, Oper&Tanz, Ausg. 2/09). Und: „Nichts gönnt sie sich. Ihre Arbeit frisst sie auf.“ Im Nachhinein liest sich das wie eine Vorausahnung. Dabei hatte die Bausch „noch so furchtbar viel vor“,
wie sie 2007 anlässlich des Kyoto-Preises äußerte.
Mit Auszeichnungen und Preisen ist sie überschüttet worden.
Posthum wurde ihr noch der Faust-Preis des Deutschen Bühnenvereins
für ihr Lebenswerk verliehen. Ein Werk, das weit über
ihr Leben hinauswirkt. „Warum tanzen wir überhaupt?“ Mit dieser Hinterfragung einer rein ästhetischen Tanzkunst, mit poetischen, alle Sinne und die Phantasie beflügelnden Bühnenbildern (bis 1980 entworfen von ihrem früh verstorbenen Lebenspartner Rolf Borzik, danach von Peter Pabst), mit ihrer ganz anderen Körpersprache und ihrem Blick in die menschliche Seele hat sie auch das Theater, die Oper und den Film tiefgreifend beeinflusst.
Menschen beobachtet hat schon die kleine Pina aus ihrem Versteck unter den Tischen des elterlichen Solinger Gasthauses. Dort entdeckt man auch ihr Bewegungstalent: Also Ballettschule und ab 1955, sie ist gerade 14, die Ausbildung an der Essener Folkwangschule unter Kurt Jooss, einem Schüler noch von Rudolf von Laban, dem Bewegungstheoretiker und Initiator des deutschen Ausdruckstanzes. Ein Glücksfall. Bei Jooss, der gelegentlich schon Sprache und Schauspiel-Elemente einsetzte, lernt sie vor allem die Offenheit anderen Künsten und Einflüssen gegenüber. Durch einen Studienaufenthalt in den USA (1959-61) kommt sie, auch das ein Glücksfall, schon früher als die meisten hierzulande mit den neuen Techniken und Stilen des amerikanischen Modern und des beginnenden Postmodern Dance in Berührung. Und dann der 68er-Aufstand gegen die Vätergeneration. Die neue Freiheit im Denken, auch in den Künsten. Das junge wilde Regietheater krempelt die Klassiker um, sucht nach neuen sinnlichen Bildern. Fragte: Was kann, was will Theater? Und ähnlich aufsässig die Choreografen Hans Kresnik, Gerhard Bohner und Pina Bausch. Lösung vom KlassischenDie Zeit war reif für eine neue Art von Tanz, so wie die 1910er-/20er-Jahre notwendig den Ausdruckstanz hervorgebracht hatten. Und die Bausch gab dieser Notwendigkeit eine einzigartige Form. Ihr „Sacre du Printemps“ von 1975, längst ein Klassiker und von Elite-Ensembles wie dem Ballett der Pariser Oper getanzt, ist ihr letztes durchchoreografiertes Stück. Aber schon Anfang der 70er-Jahre beginnen die Tanzvokabeln und die Dramaturgien sich aufzulösen. Bausch verwendet auch keine Libretti und klassischen Musiken mehr – und wenn, dann nur, um die Vorlagen zu zerbrechen. Mit sinnvoller Absicht. Wenn sie 1977 die Bandeinspielung von Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ unterbricht, zurückspulen und Passagen wiederholen lässt, provoziert sie an den Bruchstellen eine reflektierende Distanz. In Blaubart und Judith stehen sich plötzlich Mann und Frau gegenüber – in ihrer Suche nach Zärtlichkeit, in ihren Missverständnissen, Machtspielen und gegenseitigen seelischen Verletzungen. Die alltäglichen Partnerkonflikte bleiben das zentrale Thema, das Schritt für Schritt zu diesem neuen Genre, ihrem Tanztheater hinführt: ein Reigen von lyrisch zarten, komödiantisch grellen oder auch dramatisch harten Bewegungsbildern, modelliert von Pina Bausch aus den in langen Gesprächen mit ihren Tänzern gesammelten Geschichten über Kindheit, Eltern, Partner, Ängste, Wünsche und Verluste. Es war Bauschs unerbittlicher Aussagewille gepaart mit einem unerhörten künstlerischen Forminstinkt, aber auch die Authentizität des „seelischen Materials“, und natürlich diese so noch nie dagewesene Zusammenarbeit zwischen Choreograf und Tänzern, die ihr Tanztheater so wirklichkeitsnah, so wahrhaftig machten. Auch anstrengend. Vom gewohnten Ballettmärchen in Pinas Welt geworfen zu werden, in der auch noch, damals völlig ungewöhnlich, Klassik, Ethno, Jazz, Pop und nostalgische Schlager Stimmungen verstärkten oder ironisch konterkarierten, das war ein Schock. Die auf der Wuppertaler Opernbühne tobenden Geschlechterkampf-Verfolgungsjagden, begleitet von hysterischem Kreischen, die krassen Bekenntnismonologe, das direkte Aussprechen von Wahrheiten – das rührte an Verdrängtes, überrannnte Schamgrenzen, machte Angst. Drei, vier Jahre hat es gedauert, bis die Wuppertaler nicht mehr türenknallend flüchteten. Pina Bausch hat das durchgestanden. Auch das ein Kraftakt. Irgendwann hatten die Zuschauer begriffen, dass in Macho-Gehabe und Pin-up-Posen Fragen nach Selbstbestimmung und Identität gestellt wurden. Hatten Vergnügen daran, Bauschs Bild-Metaphern zu entschlüsseln, den Humor anzunehmen. Machten selbst enthusiastisch mit, als Bausch „Kontakthof“ von 1978 mit Laien als „Kontakthof für Damen und Herren ab 65“ 2000 neu einstudierte. Dem ließ sie 2008 noch eine Version „mit Teenagern ab 14“ folgen. Offene FragenDass sich die frühe Rebellion gegen selbstzweckhaften schönen Tanz wie gegen alte Mann-Frau-Rollenklischees verbrauchen würde, war auch Pina Bausch klar. In den letzten Jahren ist sie wieder mehr zum Tanz zurückgekehrt, wunderschön fließendem Tanz, der, entsprechend der nachgewachsenen Tänzergeneration, die neueren athletisch-artistischen Strömungen integrierte. Auch darin war sie eine Meisterin. Zwangsläufig gab es in diesen gut 40 Jahren eines ungewöhnlich kreativen Schaffens auch schwächere Stücke. Anders wäre es unwirklich gewesen. Vielleicht wird erst jetzt nach ihrem Tod ihre große Künstlerschaft voll hervortreten. Ihre Bewegungs-Bilder sind offen, können in jeder Zeit, in jedem Land neu gedeutet werden. Ihre in Nelkenfeldern, Kakteen-Parks, an Badestränden und auf Rosenhügeln aufblühenden Stücke wurden Gesamtkunstwerke. Muss man sie nun verloren geben? „Einer, der Stücke in meinem Sinne kreiert, das sehe ich kaum“, wird Pina Bausch in einem Interview der Westdeutschen Zeitung (WZ) zitiert. Vorstellen könne sie sich einen von ihr bestimmten Kurator, der über ihr Werk wacht und es in ihrem Sinne aufführt. Aber selbst wenn ein solcher nun gefunden wird, wie lange wird er die Qualität des Repertoires halten können? NRW wird vorerst die Subvention von fast einer Million Euro weiterzahlen, um die geplanten Tourneen zu sichern. Zurückliegende Gespräche zwischen Bausch und Staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff über die Gründung einer Stiftung und eines Archivs für ihren Nachlass auf der Museumsinsel Hombroich hatten noch zu keinem konkreten Ergebniss geführt. Die Sicherung ihres Erbes und die Weiterführung des Tanztheaters Wuppertal – ein noch offenes Kapitel. Malve Gradinger |
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