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Berichte

Klangraumerlebnis und Ideentheater

Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in Augsburg · Von Wolf-Dieter Peter

Schon in den späten 1980er-Jahren stellte Carl Friedrich von Weizsäcker fest: „Das Schlimmste ist, dass wir auch die Hoffnung des Protestes enttäuscht haben.“ Doch gerade weil das gesamtgesellschaftliche Ohnmachtsgefühl noch ausgeprägter ist, hat sich Augsburgs Intendantin Juliane Votteler für ein „Dagegenhalten“ entschieden: Sie eröffnete die neue Spielzeit mit einem sperrigen Block, einer tollkühnen Neuproduktion, ergänzenden Zusatzveranstaltungen und einem Symposium. Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ fordert von allen Sparten des Hauses wortwörtlich „Enormes“, über die normalen Herausforderungen einer Neuproduktion deutlich Hinausgehendes. Die extreme Atonalität, die Stimmbehandlung von gehauchtem Pianissimo oder schrillen Diskantsprüngen zu kleinen Lyrismen weiter über emotionale Steigerung zum grellen Ausbruch nahe am Schrei, Wortfetzen und fugiertes Gegen- und Miteinander verlangen Chor, Solisten, Orchester, musikalischer Studienleitung und Dirigent weit mehr als andere zeitgenössische Werke ab.

Schlussbild: Mathias Schulz (Emigrant) und Sally du Randt (Gefährtin). Foto: A.T. Schaefer

Schlussbild: Mathias Schulz (Emigrant) und Sally du Randt (Gefährtin). Foto: A.T. Schaefer

So begannen erste Chorproben schon im Frühsommer parallel zu den letzten Premieren der zurückliegenden Spielzeit. Chorleiterin Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek hat dabei mit dem in voller Stärke beteiligten Chor nicht nur die genannten musikalischen Herausforderungen gemeistert, sondern auch beachtliche Textverständlichkeit erreicht. Das auch szenisch vielfältig geforderte Chorkollektiv erntete so am Ende zu Recht Bravo-Rufe in „Solisten-Stärke“. Nächstes Faktum des Staunens war, dass alle Solopartien mit hauseigenen Kräften besetzt werden konnten. Tenor Mathias Schulz (Emigrant), Sopran Sally du Randt (Gefährtin) und Mezzosopran Kerstin Descher (Frau), ihre drei „kleineren“ Gesangs- und die drei Sprechrollenkollegen konnten zusammen studieren und bildeten so ein natürlich gewachsenes Kollektiv. Die Augsburger Philharmoniker benötigten 14 Verstärkungen, vor allem im Schlagwerk. Doch auch hier gelang der musikalischen Studien-Crew klanglich Geschlossenes und Sicheres, so dass Dirigent Dirk Kaftan bei aller Konzentration auf den schwierigen Notentext auch Differenzierung, Abstufung und Kontakt zum ebenfalls „enormen“ Spielraum möglich waren. Bei allem Staunen wurde am Ende klar: Heute bewältigt ein Stadttheater ein früher eher nur Staatsopern zugetrautes, hochkomplexes und kompliziertes Werk aus eigenen Kräften – deshalb die abermalige Aufforderung an die neue Berliner Politik: Diese deutsche Theaterlandschaft ist einzigartig und sollte ins „Weltkulturerbe“ aufgenommen werden.

In Augsburg kam zur Musik auch szenisch Beeindruckendes. Die Besucher wurden schon von einer Protest-Crew für „Pro Kultur“ vor dem Theater empfangen. Dann ging es auf verschlungenen Wegen durch den maroden Unter- und Seitenbau, vorbei an Goyas „Erschießung der Aufständischen“ und Delacroix’ 1848er-Revolutionsbild als „lebendes Tableau“ zu zwei Sitzblöcken auf der Bühne. Bei heruntergelassenem Eisernen Vorhang, mit halbversenktem Orchester und Auftritten aus dem ganzen Bühnenraum (Szene und präzise charakterisierende, heutige Alltagskostüme: Ric Schachtebeck) gelang es Regisseur Ludger Engels, Schicksalsstationen eines aus Ausbeutung, Terror und Folter ausbrechenden, nach Freiheit und Heimat suchenden Emigranten als theatralische Aktion sichtbar und verständlich zu machen. Keine Entspannung in der Pause: Im Foyer stand ein Gitterkäfig mit der Gruppe des Projekts Cosmopolis als „soziale Skulptur“ des Asylbewerberdaseins. Zum zweiten Teil fuhr dann der „Eiserne“ hoch. Ein breiter Spielsteg teilte das Orchester und führte über die Sitzreihen bis ans Ende des Parketts, wohin eine Hälfte der Zuschauer übersiedelt worden war. Den Steg bemalte Kalligraph Adi Sayed Bahrami als fast utopisch wirkenden Sehnsuchtsort, wozu die wenigen realen Möbelstücke banal kontrastierten. Als theatrale Raumweitung und Klang-Szene wirkte dies stark. Doch die Umdeutung des Finales gelang nicht überzeugend: Werden im Original alle, Chor und Solisten, von einer sintflutartigen Überschwemmung getötet und hinweggefegt, so ließen Dramaturgie und Regie in Augsburg den heimgekehrten Emigranten und seine Gefährtin überleben und einen Wiederaufbau beginnen. Das steht auch zum sanft hereinklingenden Abschiedschor mit Brechts „An die Nachgeborenen“ quer – erst recht in unserer von Goldma, Sachs & Co. total dominierten Welt der „Bankster und Finanzhaie“ und der emotional weitgehend distanziert wirkenden, letztlich intellektuell elitären Musik Nonos. Dass „die Künste“ mit einem „Trotz alledem und alledem!“ dagegenhalten, bleibt dennoch richtig und wichtig – auch wenn Weizsäckers eingangs zitierte Feststellung leider weiter gilt.

Wolf-Dieter Peter

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