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Berichte

Dreh- und Angelpunkt des Geschehens

»Böse Geister« – Uraufführung in Mannheim

Schon zu Beginn sitzt dem Zuschauer die Angst im Nacken: Von hinten rücken Klangattacken immer näher an ihn heran, im Staccato marschiert der Chor zum dreifachen Fortissimo. Doch plötzlich bricht der Angriff ab, und der mächtige Strippenzieher Stawrogin lässt das Spiel auf der Bühne beginnen: „Sie haben eine Tochter, ein kleines Mädchen. Sie heißt Matrjoscha, sie bedient mich.“

Martin Busen als Stepan, Evelyn Krahe als Warwara. Foto: Hans Jörg Michel

Martin Busen als Stepan, Evelyn Krahe als Warwara. Foto: Hans Jörg Michel

In ihrer neuesten Oper „Böse Geister“, die am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde, wendet sich Adriana Hölszky großer Literatur zu: Dostojewskis gleichnamiger Roman ist ein Portrait der russischen Gesellschaft, die an nichts mehr glaubt und ihrem Untergang entgegentaumelt. Von dem Roman ist nach der Bearbeitung durch Librettistin Yona Kim nicht viel übriggeblieben, doch Angst, Bedrohung, Chaos und Orientierungslosigkeit beherrschen auch die Oper.

Kim formte aus dem Roman drei Textblöcke: eine Szenenfolge mit den Texten der Solisten – Kim reduziert das Personal auf neun Figuren –, das Chormaterial und den Bericht des Stawrogin.

Die Gliederung des Librettos gibt auch die Raumteilung vor. Vorne liegt die Bühne, die die Solisten bespielen. Zwischen ihnen und dem Publikum erstreckt sich der Orchestergraben. In der Mitte der ersten Zuschauerreihen steht ein Podest mit einem Sofa, auf dem Stawrogin sich mit drei Geistern räkelt. Und hinter dem Publikum, im Rang, singt der Chor, Dreh- und Angelpunkt allen Geschehens. Mal tönt er gewaltig wie eine Klangwand, an der alles abprallt und die kein Entrinnen erlaubt; dann löst sich die Wand in Wolken auf, die schwammig durch den Zuschauerraum wabern. Die Chorsänger schmatzen, schlürfen, schnalzen, sprechen und manchmal singen sie auch. Die Mannheimer Chorsänger (Einstudierung: Tilman Michael) entfalten eine ungeheure Wucht, eine Sogkraft, der sich niemand entziehen mag. Sie bilden die Atmosphäre, vor und in der sich das Drama abspielt. Doch eigentlich gibt es hier kein Drama, keine Kräfte, die gegen- oder miteinander wirken, keine Handlung, die sich abspielt. Hölszky und Kim zeigen einen Zustand. Einen Zustand aber, der nicht greifbar ist. Hölszky setzt mit ihrem vielschichtigen Werk die lineare Zeit außer Kraft. „Zeit: Gestern, heute, morgen. Ort: Hier, überall, nirgends“, heißt es im Libretto. Die Überzeitlichkeit der Themen macht strukturierte Musik unmöglich.

Auch die Solisten bleiben seltsam konturlos. Weder Text noch Musik verleihen ihnen Individualität, sie bleiben Marionetten. Hölszky lässt die Solisten simultan singen, baut auch hier – wie beim Chor – Klangschichten übereinander, so viele, dass sich Chaos breitmacht. Ihre Musik bietet den Sängern wenig Halt und wenig Unterstützung. Umso bemerkenswerter ist deren präzise und ausdrucksstarke Darstellung; genannt seien allen voran Steven Scheschareg als Stawrogin, Evelyn Krahe als Warwara und die Julia der Iris Kupke.

Aus dem Orchestergraben klingen immer wieder Akzente gegen die Chorwolken: Da scheppern metallisch klar die Blechbläser, Cymbalon, Akkordeon und Vibraphon locken in fein gewebten Tonnetzen. Die Streicher haben wenig zu tun, umso mehr das Schlagwerk. Präzise leitet Roland Kluttig das Orchester durch die immens schwierige Partitur. Den Mannheimer Musikern merkt man nicht an, dass sie keine „Hölszky-Spezialisten“ sind.

Verzichtete Hölszky bewusst auf jegliches russische Kolorit, so versetzt Regisseur Joachim Schlömer das Werk ins russisch-bürgerliche Milieu des späten 19. Jahrhunderts. Zwei drehbare Häuser – das eine ist die Vergrößerung des anderen – erlauben den Zuschauern die Innenschau ins Leben der Protagonisten. Immer um sie herum: die Geister des von Stawrogin vergewaltigten Mädchens Matrjo-
scha und Stawrogin selbst, der als Voyeur alles filmt, seine Opfer, auch das Publikum. Wie die Musik zoomt er sich langsam heran, immer näher und näher…

Adriana Hölszkys neueste Oper ist ein grandioses Werk, das hoffentlich bald und oft wieder aufgeführt wird. Damit dies gelingt, braucht es aber solch fulminante Sänger und Musiker wie die des Mannheimer Nationaltheaters.

Jelena Rothermel

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