Ob es gut war, nach diesem fantastischen Hörstück den Vorhang aufzuziehen? Über einem entvölkerten Venusberg, in dem nichts geschieht? Welch schreiende Diskrepanz! Während im Orchester die Urfassung des Bacchanals wie ein Brillantfeuerwerk abknattert, reibt man sich die Augen und fragt besorgt, ob das auf der Bühne die Inszenierung ist oder die Vorstufe zu einer Stellprobe. Keine actio, kaum reactio; ein Foto-Atelier. Bewegung ist nichts als leere, private Suche nach einer neuen Pose. Nur drei Tänzerinnen, beschämt ob der kindisch synchronen Räkelei, leisten Venus Gesellschaft. Tannhäuser kommt spät, findet die Damen schlafend und tupft der Gebieterin einen befeuchteten Finger auf den Mund. Was erweckt er sich da? Barbara Schneider-Hofstetter gibt eine müde Göttin, die mit Anstand das eigene Verschwinden hinauszögert. Das einfarbige Leuchten ihrer in der Höhe schlagkräftigen Stimme offenbart ein resignatives Muskelspiel; immer muss sie ein wenig stoßen, ehe ein Ton auf gewünschter Position justiert ist. Glenn Winslade wächst, Portamenti klug vermeidend, mit Schmerz in seine Rolle, die ihn aktiver, drängender, hingerissener, trunkener fordert – doch sein lyrisches Fundament steht fest. Besser so gesungen, als forciert und eingebrochen. Auch kommt Vergessenes zum Vorschein: die Sehnsucht nach dem freien Himmel, nach Sonne, Mond, dem Wechsel der Jahreszeiten. Leidend, tränenüberströmt verharrt Tannhäuser, als rings um ihn die Dekoration wechselt und Evgenia Grekova ihn spitzbübisch kokett ansingt, mit einem Stich ins Grelle, der mehr auf eine dem Hörselberg entsprungene Sirene denn auf einen Hirtenknaben schließen lässt. Aber das geht vorüber, und ein feiner Lontano-Zauber hebt an. Eberhard Friedrich hat die Chöre darauf vorbereitet, dem Dirigenten wie ein zweites Orchester zu Gebote zu stehen, eines, das aus dem Nichts schier unendlich wächst. Auch der jagdliche Hörnerschall beginnt wirklich leise; man vertraut hier auf eine romantische Idee, es ist atemberaubend. Nun betritt Kwangchul Youn die Bühne, als Landgraf Hermann auch vokal ein Souverän: voller Macht, Weisheit – und Zärtlichkeit, auf dass er das Wort nicht zerbreche, das er in kräftigen Händen hält. Den zu stiller Noblesse verurteilten Wolfram von Eschenbach singt, nicht minder faszinierend in der Textausdeutung, Roman Trekel. Seine Auftritte sind grazile Balladen, reich an Farben und Facetten; ihm ist auch der einzig buchenswerte Regie-Einfall anvertraut: Wolfram ahnt, wo Tannhäuser war – er liest die Partiturseiten, die dieser mit sich führt, und retourniert sie mit eisigem Blick. Das Ensemble der kleineren Konkurrenten krönt Clemens Bieber als Walther von der Vogelweide lieblich und rein. Trocken klingt sein Solo auf der Wartburg. Schade, dass im Sängerkrieg John Wegner die Worte des Biterolf so falb, so wenig wütend ausstößt – und unverdientes Pech, dass die Regie ihn zur Witzfigur stempelt, die Tannhäuser nachläuft und ungeschickt versucht, ihm den Kopf abzuschlagen. Die Fokussierung auf Elisabeth macht vieles wieder wett, denn Ricarda Merbeth kommt der Flammenreinheit der Figur nahe. Manchmal schießt mehr Kraft aus ihrem Innern, als sie bändigen kann. Dann sucht sie zitternd, bebend eine Mitte, einen Halt in der Leidenschaft und findet ihn überzeugend im großen kontemplativen Ensemble. Die folgende Strafrede des Landgrafen entfesselt durch das raffiniert ausgedehnte Accelerando des Orchesters einen musikalischen Wirbelwind; Tannhäuser muss es scheinen, als drehe sich das Narrenschiff um ihn herum in immer verrückterem Tempo und schleudere ihn hinaus ins Elend. Vollends zur Überraschung gerät der dritte, wie von fern herüberklingende Akt. Tannhäusers Romerzählung, die, ganz auf Wort und Melos gestellt, äußerer Drastik nicht mehr bedarf, ist das Herz einer traumverlorenen Novelle. Zuvor, da Wolfram den Abendstern grüßt, erlebt man Roman Trekel noch einmal in sensiblem Einverständnis mit Thielemanns Interesse am Leisen, Fragilen, Verletzbaren. Die Chöre des Finales sind ergreifend in ihrer Schlichtheit, sie sprechen staunend das Unbegreifliche aus. So komponiert einer, dem der Zweifel am Wortsinn der Legende im Leib sitzt und der doch ohne die Bildkraft des Wunderbaren nicht atmen, nicht leben kann. Auf höherer Stufe findet er die Synthese in neuen Farben und Harmonien, die Skepsis und Glaubens-Sehnsucht in eins zwingen. Christian Thielemann sucht die Modernität des Werkes nicht im Aufrauhen oder Vergröbern der Textur, sondern im Gewährenlassen, Strömenlassen, im Elementar-Ereignis des Klangs. Er ist heute das unruhige, Wünschelruten panisch erregende Zentrum im dirigentischen Kräftefeld des Grünen Hügels, das nach lang währendem Patt gesättigter Pultlöwen merklich in Bewegung geriet. Bayreuth ist von neuem ein Ort, der die Möglichkeit der Steigerung in sich birgt. Mit positiver Kärrnerarbeit entledigte Adam Fischer sich der Aufgabe, in einem überkommenen Interpretations-Gehäuse Konkursverwalter zu spielen; bald ist der „Ring“ sein eigener. Sir Andrew Davis bietet im „Lohengrin“ einen drahtigen Komparativ. Superlativische Höhenluft zu atmen, ihre Witterung aufzunehmen, vermag vielleicht einzig Thielemann, der dem Orchester alles schwitzend Musikantische austreibt. Unter seinen Fingern brennen Instrumentalfarben heller und reiner als sonst. Die Klarheit, die er einfordert, hat etwas irisierend Doppeldeutiges. Nichts ist nur es selbst; was die Aufgabe vollkommen erfüllt, weist über sich hinaus. Indem, um ein mikroskopisches Beispiel zu geben, Violinen und Bratschen vor der Hallen-Arie ihre makellosen, rasenden Martellati ausführen, sind sie in einer Art Vollbiegsamkeit der musikalischen Sprache wie Trompeten, aber in einem Register, das diese selbst nie erreichen. Zugleich gelingt etwas anderes: geschichtliches Hören. Die Tannhäusermusik erhellt blitzhaft Herkunft und Wirkung. Mit seltener Deutlichkeit erscheint das Vorbild Beethoven in den klagenden Oboensoli, in Tannhäusers Ruf nach Freiheit aus der Tiefe des Venusberges, in der kurzen namenlosen Freude des Duetts mit Elisabeth. Ebenso begegnet einem die ins Werk eingeschriebene Zukunft: Bruckner’sche Kathedralenwucht in den pochenden Triolenvierteln der Schlusstakte. Und sind diese nicht übrigens ein merkwürdiges Spiegelbild jener ekstatisch aufrüttelnden Sextolen, die vor dem ersten berückenden Choreinsatz im Bacchanal stehen?
Ein Regisseur oder Bühnenbildner, der gegen die lebendige musikalische Exegese bockig anrennen wollte, wäre dumm. Aber solche Erkenntnis allein macht auch noch nicht klug, und mit sympathischen Interview-Äußerungen ist keine Theaterarbeit verrichtet. Was hat Philippe Arlaud im Sinn? Ein leerer Raum tut sich auf; drin flattern bunte Tuche für ein Martergeld. Der künstlerische Wert lässt sich danach kaum bemessen. Ausstattungen, die etwas taugen, weil sie die Fantasie anregen, können genauso viel oder mehr kosten, manchmal weniger. In Wolfgang Wagners gern gescholtenem „Tannhäuser“ gab es eine schwebend einfache, mir unvergessliche Abstraktion des Waldes mit schlichtem Material, das in wechselnden Himmelsfarben spielte. Dass Farbe eine Kostbarkeit ist, derer man sich mit Bewusstheit bedient, wenn man nicht abstumpfen will: wäre es nicht gut, diesen Gedanken von der Musik auf die Szene zu übertragen? Was aber die Regie anbetrifft, so wäre Philippe Arlaud der Eifer zu wünschen, nicht umzugestalten, sondern mit der Gestaltung recht eigentlich zu beginnen. Ob es fair ist, die Darsteller so weitgehend sich selbst zu überlassen, dass sie einander allzu oft im Wege stehen – die Entscheidung darüber kann nur in der Werkstatt Bayreuth selbst fallen. Sichtbar ist, dass nicht viele mit der aktuellen Situation zurechtkommen. Es gibt nur Inseln sicheren Spiels, die Unterredung des Landgrafen mit Elisabeth ist eine davon. Ich habe einen Traum: Wolfgang Wagner versucht für den „Tristan“ 2005 zwei ebenbürtige Theaterzauberer zu gewinnen. Ihre Namen könnten lauten – Christian Thielemann und Luc Bondy. Mir ist unbekannt, ob diese beiden an einer Zusammenarbeit interessiert wären. In ihren künstlerischen Aussagen, davon bin ich überzeugt, sind sie einander nah.
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