Im Gegensatz zu Rihms „Jakob Lenz“, einer der erfolgreichsten Musiktheaterproduktionen der achtziger Jahre, fristete sein „Oedipus“ eher ein Stiefmütterchendasein. Nach der Uraufführung 1987 an der Deutschen Oper Berlin unter Götz Friedrich tritt er erst jetzt unter der Intendanz von Jens Pesel wieder auf die Bühne. Fürs Theater ist es eben schwer, wenn die dramatische Entwicklung vornehmlich aufgrund von Bewusstseinsfortschritten eines Helden Gestalt gewinnen muss. Wer ist Ödipus? Einer, der nach seiner Geschichte fragt. In Mönchengladbach fragt Johannes M. Kösters. Dank sängerischer wie schauspielerischer Kompetenz wird Kösters zur tragenden Säule einer kraftvollen Inszenierung. Ronald Carter ist ihm dabei ein starker Kreon-Gegenspieler. Carola Guber als gespaltene Iokaste – Ehefrau und stumme Frau am verzweifelten Erkenntnisende des Dramas – eine klar agierende Partnerin. Entscheidende Stütze dieser szenisch-musikalischen Architektur ist der von Heinz Klaus perfekt präparierte Herrenchor aus je acht Tenören und Baritonen. Kirsten Dephoff hat sie in schwarze Anzüge gesteckt mit schwarzen Hüten auf den Köpfen. Der Chor ist die „Öffentlichkeit“: erst servil gegenüber Ödipus, schließlich ihn einkreisend, als er nicht zu Wege bringt, was von ihm verlangt wird, nämlich, die Stadt von der Seuche befreien. Und als sich der Verzweifelte blendet, weil er alles begriffen hat, ist es der wohllöbliche Rat, der die Bühne erobert und mit höhnisch verbundenen Augen den Unglücklichen vertreibt. Gängige Hosianna-Kreuzige-ihn-Praxis. In Rihms Nicht-Handlungsoper erwächst diesem modernen Antikenchor eine zentrale Protagonistenrolle, was die vereinigten Tenöre und Baritone der Bühnen Krefeld und Mönchengladbach darstellerisch und sängerisch glänzend meistern. Im Graben agieren dazu die Niederrheinischen Symphoniker, die Kenneth Duryea sicher durch die von Rihm aufgeworfenen scylla-charybdischen Klangaffektgebirge führt: Musik zu einem Bühnengeschehen, die keine Bühnenmusik sein will. Fortissimo-Blitze aus Blech- und Holzbläsern, opulentem Schlagwerk und Klavier zertrümmern im nächsten Moment, was eben noch groß dastand, wozu Rihm – bis auf eine Ausnahme – keine Streicher braucht. Erst als sich Ödipus blendet – das Blut fließt aus den Augenhöhlen seines stummen, gesichtsmaskierten Doppelgängers am Bühnenrand – lässt der Komponist zwei Soloviolinen hinzutreten. Deren laute Töne in den höchsten Lagen sind die Klingen, die die Augen desjenigen, der zuviel von der Wahrheit gesehen hat, schließen, indem sie sie öffnen. Dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei wie Ingeborg Bachmann schrieb – einen Satz, den Dramaturg Peter Stalder vielleicht etwas zu sorglos ins Programmheft gehievt hat, wäre in dieser Hinsicht in Frage zu stellen: Für diesen Menschen jedenfalls ist sie unzumutbar. Gut zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung wird die Historizität dieser Oper kenntlich, gerade indem Horres’ sich für das „unmoderne“ antike Triebmoment, für das Zeitüberschreitende des Geschehens interessiert. Was ist „Oedipus”? Als Musiktheater das Symbol einer Zeit, die ihre Geschichte noch kennen wollte. Insofern ist dieses Musiktheater tatsächlich historisch. Im aktuellen Taumel technologischer Machtspiele und längst nicht mehr nur virtueller Selbsterschaffungs- und Selbstauslöschungsphantasien erlangt solche Kunst eine Memento-Qualität – vergleichbar den zerbrochenen Säulen im Mönchengladbacher Theaterraum. Wer nicht aufpasst, wird sich daran stoßen.
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