Vorweg: Von den jungen Staatsballett-Tänzern war es eine phänomenale Leistung, Forsythes komplizierte Sprache so schnell bühnenreif zu präsentieren. Letzten Juli wurden sie in Workshops von vier Ballettmeistern, ehemaligen Forsythe-Tänzern, vorbereitet, die auch die Einstudierung besorgten. Und die abschließende Intensiv-Woche des Meisters hat nochmal verstärkt inspiriert. Ausgehend von einem hochsensibilisierten Körperbewusstsein – einer „Körperinnenwahrnehmung“ in jeder Sekunde des Tanzens – soll der Tänzer eine vorgegebene Bewegung selbstverantwortlich ausführen, so wie es seinem Körperbau, seiner Tagesenergie, seinem Gefühl entspricht. Eine unverhoffte Kurve aus einer Drehung heraus, ein aus der Balance-Kippen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Nicht von ungefähr haben Forsythe damals Architektur-Skizzen von Daniel Libeskind inspiriert: schräge Linien, überraschende Perspektiven – wie der Architekt sie dann im Jüdischen Museum Berlin verwirklicht hat. Gerade durch eine gewisse „Nicht-Festlegung“, eben durch „ad hoc-Möglichkeiten“ im Fluss der Bewegung, ergeben sich schon bei der Erarbeitung einer Choreografie und dann nochmals in jeder folgenden Vorstellung jeweils individuelle neue Bewegungsnuancen. Ein Forsythe-Stück befindet sich also in einem ständigen Prozess der Veränderung. Als sein „Ballett Frankfurt“ 1994 mit „Limb’s“ in der Münchner Ballettwoche gastierte, war man gebannt: Keine dekorative „Erzähl-Kulisse“ mehr. Die Bühne mit photographischem Hell-Dunkel-Lichtdesign (beides: Michael Simon/Forsythe) völlig neuartig inszeniert. Integriert in das tänzerische Geschehen jeweils riesige, von den Tänzern per Hand gewendete und gedrehte Objekte: eine wie ein Lichtsegel schräg über der Tanzfläche schwebende weiße Fläche (Teil I). Ein gewellter Holz-Paravent, von umhergefahrenem großem Scheinwerfer immer anders plastisch modelliert (Teil II). Ein sich sanft drehendes Modell-Viertel einer Dom-Kuppel oder auch eine Satellitenschüssel (Teil III). Und dann diese sonderbar hohle Klang- und heisere Echo-Räume schaffende elektronische Musik von Hauskomponist Thom Willems, diese nachtschattige Atmosphäre, in der die Tänzer einzeln, in Pas de deux und in kleinen Gruppen geheimnisvoll werkende oder rasend getriebene Wesen einer „Utopia Station“ sind. Und schließlich diese Tanzsprache, neoklassisch noch in den überpointiert kantig-geradlinig gesetzten Armen und Arabesquen, in den Pirouetten, aber auch schon postmodern herausgewunden tief aus der Mitte von Delphin-ähnlich wegtauchenden Körpern, herausgewrungen, -geschleudert, angepeitscht von Willems’ metallischen Rhythmen – das alles war faszinierend neu, in seiner kühlen Virtuosität berauschend. Ballett konnte also auch ganz anders sein, kam ohne Spitzenschuh und Tüllröckchen aus, spiegelte in der zersplitterten Vielzahl von Aktionen, in seinem Tempo, seiner explodierenden Energie den gesellschaftlichen Wandel hin zu einer hochtechnisierten komplexer gewordenen Existenz. All das ist natürlich auch jetzt vorhanden. Aber Forsythes Einfluss auf die nachgewachse-ne Choreografen-Generation war so überwältigend stark, dass – Schicksal eines jeden Avantgardisten – all seine Neuerungen im Laufe von 15 Jahren choreografische Normalität geworden sind. Mag „Limb’s“ für das eher konservative München im Augenblick eine Attraktion sein (die Vorstellungen sollen immer ausverkauft gewesen sein), für den Berufszuschauer hat „Limb’s“ jedenfalls eine leichte Patina. Ohne Frage hat das Staatsensemble pädagogisch-künstlerisch profitiert, hat sogar von Forsythe selbst Lob geerntet – was hoffen lässt, dass er in naher Zukunft auch mal etwas in München kreiert. Malve Gradinger |
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