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Kulturpolitik

Tristan und Isolde sind jung

Zehn Jahre Junge Oper Stuttgart · Von Andreas Hauff

Auf dem Spielplan im Stuttgarter Opernhaus steht „Madame Butterfly“. Doch die Schülerinnen und Schüler liegen bequem auf dem Boden im Stuttgarter Kammertheater. Eine gelenkte Fantasiereise führt sie in den Hafen von New York, auf das Schiff „Abraham Lincoln“, in den Hafen und die Stadt von Nagasaki. Später schreiben sie nach den ausgeteilten Karten eine Rollenbiografie für Cio-Cio San, Pinkerton, Sharpless, Suzuki oder die anderen Gestalten des Stücks, suchen sich Kostüme oder Requisiten aus, entwickeln für ihre Figur erst eine Gehhaltung, dann eine Sprech- und zuletzt eine Singhaltung. Über Standbilder entstehen unter der Anleitung des Spielleiters erste improvisierte Spielszenen; schließlich wird auch ein Originalszenario nachgestellt. So oder so ähnlich vertiefen sich die Teilnehmer in die szenische Interpretation von Puccinis Oper. Am Ende stehen alle im Kreis, rufen noch einen Satz ihrer Figur und werfen zum Abschied Kostüm oder Requisit in die Mitte.

Butterfly der Jungen

 
„Butterfly-Workshop“. Foto: Ferdinando Iannone
 

„Butterfly-Workshop“. Foto: Ferdinando Iannone

 

„Das war Madame Butterfly“, kommentiert der Spielleiter. Nun – sicherlich nicht die „Butterfly“ im Großen Haus, aber die „Butterfly“ der jungen Leute. Ein paar Tage später, im Großen Haus, werden sie als Experten Monique Wagemakers’ Inszenierung mit wacher Aufmerksamkeit verfolgen. Dass die Gattung „Oper“ den meisten Kindern und Jugendlichen fremd geworden ist, bietet auch die Chance des unbefangenen, neugierigen Zugangs – und zeitigt in vielen Fällen mehr Offenheit als die Sehgewohnheiten alter Opernliebhaber. „Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, dass, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss.“ Diesen Satz formulierte vor inzwischen 99 Jahren der Komponist und Pianist Ferruccio Busoni in seinem berühmten „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“. Die Schülerinnen und Schüler, die im „Erlebnisraum Oper“ aktiv waren, haben sich ihren Anteil an der Rezeption tatsächlich erarbeitet. Die Methode funktioniert allerdings auch bei aufgeschlossenen Erwachsenen – sogar unter gestandenen Oberstudienrätinnen und Studienräten, die sich in einer Lehrerfortbildung mit der Methode der Szenischen Interpretation von Musiktheater vertraut machen.

Zehn Jahre Kontinuität

Zehn Jahre „Junge Oper“ an der Staatsoper Stuttgart: Was als Experiment begann, ist zum Erfolg und viel beachteten Vorbild geworden. Kernstück der Arbeit war und ist die Szenische Interpretation von Musiktheater, die als Methode erfahrungsbezogenen Lernens seit Mitte der 1980er-Jahre im Arbeitskreis „Musik und Szene“ an der Universität Oldenburg entwickelt wurde. Von dort kam 1995 Markus Kosuch nach Stuttgart auf die neu errichtete Stelle eines Musiktheaterpädagogen und entwickelte unter dem Namen „Erlebnisraum Oper“ zunächst die Schulprojektarbeit. Schülerinnen und Schüler wurden und werden hier aktiv in die inhaltliche Auseinandersetzung mit den im Großen Haus aufgeführten Opern einbezogen. 1997 folgte die „Junge Oper“ als Institution, und zu den Schulprojekten trat die Erarbeitung eigenständiger Musiktheaterproduktionen im Kammertheater mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen für eben diese Altersgruppen.

Seitdem wurden in jeweils neuen Besetzungen insgesamt 15 Produktionen erarbeitet. Angefangen von César Cuis Kinderoper „Der gestiefelte Kater“ in der Saison 1997/98 über Bernhard Königs Musiktheater „Expedition zur Erde“ 2000/01 oder Dmitri Schostakowitschs Operette „Moskau-Tscherjomuschki“ 2003 waren bis zur Uraufführung von Mike Svobodas „Erwin, das Naturtalent“ in der laufenden Spielzeit stets spannende und originelle Produktionen zu sehen, in denen sich junge Sänger und Orchestermusiker erproben und bewähren konnten. Von theaterpädagogischer Bedeutung waren bei allen Produktionen auf der produzierenden Seite der jeweils neu zusammengestellte Jugendprojektchor, die schulbegleitenden Praktika für Realschüler (in den Bereichen Maske, Beleuchtung und Technik) und die Hospitanzen für Studierende (in Dramaturgie, Bühne, Regie, Kostüm und Musiktheaterpädagogik). Dazu kamen für die Rezipientenseite die produktionsbegleitenden Schulprojekte, die Herstellung von Unterrichtsmaterialien und die Lehrerfortbildung.

Gelungener Abschluss

Inzwischen ist das Leitungsteam auf vier Personen angewachsen: den Dramaturgen und Regisseur Manfred Weiß, den musikalischen Leiter Wolfgang Heinz sowie die Musiktheaterpädagogen und organisatorischen Leiter Cecilia Zacconi und Johannes Fuchs. Der garantierte Jahresetat beläuft sich nun auf 500.000 Euro; dazu kommen noch Spenden und Fördergelder. Die Schüler-Eintrittspreise zu den Produktionen im Kammertheater liegen bei sozialverträglichen sechs Euro. Um die Arbeit fortführen und ausbauen zu können, wurde im März 2004 die Aktion „Paten für die Junge Oper“ initiiert. Mit dem Ende der Intendanz von Klaus Zehelein im Sommer 2006 geht allerdings eine personelle Runderneuerung an der Stuttgarter Staatsoper einher, und auch das Leitungsteam der Jungen Oper muss seinen Abschied nehmen. „Erwin, das Naturtalent“, ein Auftragswerk zur Abschiedssaison, bedeutete einen rundum gelungenen künstlerischen Abschluss. Die amüsant erzählte (und von Ilona Lenk geschickt ausgestattete) Bühnenhandlung, in der das unverbildete Stimm-Talent Erwin in der Südsee vom Geräuschforscher Professor Hoggins entdeckt und im Verein mit einer geschäftstüchtigen Impresaria durch die Konzertsäle und Musikarenen geschleppt wird, bot Regisseur Patrick Schimanski zahlreiche Gelegenheiten zur satirischen Überzeichnung des heutigen Musikbetriebs in U- und E-Musik. Svobodas Musik changiert unbefangen und witzig zwischen Neuer Musik, Klassik, Jazz und Pop.

Intensive Unterstützung

Markus Kosuch, der die junge Oper bis 2001 betreute und seitdem freiberuflich arbeitet, betont im Rückblick die entscheidende Rolle des Intendanten. Dank Klaus Zeheleins persönlichem Interesse an dem Projekt und der von ihm durchgesetzten Institutionalisierung und Bestandsgarantie sei damals entstanden, was in unserer Gesellschaft im Allgemeinen fehle: „Ein Freiraum, in dem man spielen, experimentieren und etwas riskieren darf.“ Man habe im intimen Kammertheater mit seinen 200 Plätzen nicht das „Kleine Staatstheater“ gespielt, sondern eine eigenständige Ästhetik entwickelt, an deren Ausgestaltung die jungen Leute beteiligt gewesen seien. Sein Maßstab für eine Produktion sei: „Ist spürbar und sichtbar, dass eine Auseinandersetzung stattgefunden hat?“ Kinder und Jugendliche seien nicht, wie Marketingstrategen gerne betonen, „das Publikum von morgen“, sondern schon „das Publikum von heute“, das ernst genommen werden wolle. Thomas Koch akzentuiert es noch deutlicher. Zeheleins Pressesprecher ist kein schnittiger PR-Mann, sondern ein nachdenklicher Vertreter eines Opernhauses, das überlieferte Kunstwerke immer wieder auf ihre heutige gesellschaftliche Bedeutung abgeklopft hat. Er sagt: „Kunst ist kein Verbrauchsgut, sondern ein Erfahrungsschatz und ein Aneignungsprozess. Kinder und Jugendliche sind keine Verbraucher, sondern Erfahrungssammler.“

Pädagogische Chancen

 
Begeisterung in einer Stuttgarter Brennpunkt-Schule. Foto: Theater
 

Begeisterung in einer Stuttgarter Brennpunkt-Schule. Foto: Theater

 

Cecilia Zacconi und Johannes Fuchs, die jetzigen pädagogischen Leiter, unterstreichen den schulartübergreifenden Erfolg des Konzepts, das sich in Grund- und Hauptschulen, in Realschulen und Gymnasien bewährt hat. Das didaktische Arrangement sei unterschiedlich, das Prinzip das gleiche. „Die Jugendlichen wissen anfangs selbst nicht, was sie können.“ Da sei die professionelle Anleitung besonders wichtig, um Impulse zu erkennen und weiterzuentwickeln und so lange auf Disziplin zu achten, bis „die Sache an sich“ ihre Zugkraft entwickelt. Cacconi betont, Oper sei ein Medium gerade für junge Leute, denn sie handele von ihren Themen. „Tristan und Isolde sind jung! Nur junge Leute wollen aus Liebe sterben!“ Fuchs erinnert sich, wie ihm eines Tages an einer so genannten Brennpunkt-Grundschule mit zwei Drittel Migrations-Hintergrund einer seiner jungen Teilnehmer einen Zettel zusteckte, auf dem geschrieben stand: „Improvisieren ist schöner. Warum? Weil es Spaß macht!“ Gerade in einer Zeit, in der die pädagogische Ratlosigkeit um sich zu greifen scheint, erweisen sich die Chancen der Musiktheaterpädagogik. „Niemand ist überflüssig, aber jeder wird es, dem die Anerkennung fehlt“, diagnostizierte anlässlich der Vorgänge an der Berliner Rütli-Hauptschule kürzlich ein Leitartikler der Berliner Zeitung. Pressesprecher Koch in Stuttgart plädiert deutlich für die „gemeinschaftsbildende, Aufmerksamkeit stiftende und sensibilisierende Wirkung“ der Arbeit der Jungen Oper.

Ungewisser Ausblick

Wie es unter der neuen Intendanz von Albrecht Puhlmann an der Jungen Oper weitergehen wird, darf man gespannt erwarten. Die alte Mannschaft verabschiedet sich mit drei Wiederaufnahmen: Am 13. Mai kommt Joseph Haydns Singspiel „Die reisende Ceres“ heraus, dann Stephen Olivers „Mario und der Zauberer“ und Schostakowitschs „Moskau-Tscherjomuschki“. Für Ende Mai ist auch ein Bilanz der Ära Zehelein in Buchform angekündigt. In dem Band „15 Jahre Musiktheater AN DER(S) Staatsoper Stuttgart 1991 – 2006“ wird auch die Arbeit der Jungen Oper dokumentiert.

Andreas Hauff

 

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