Aufregend, die Seymour bei der Probe zu erleben: wie sie die Staatsballettsolistin Sherelle Charge behutsam aus ihrer Überbemühung herauslockert; wie sie vormacht, die Arme fließen lässt, scheinbar völlig kunstlos aus dem Gefühl heraus – die US-Tanzpionierin Duncan, wiedergeboren hier im Probensaal, auf der Suche nach ihrem neuen freien Tanz. Könnte Seymour in der Gala nicht wenigstens einen der fünf Walzer selbst tanzen? „Nein“, wehrt sie ab, „Das ist vorbei. Ich hab das alles gehabt.“ Natürlich, alles, von Petipa bis zu den Neoklassikern George Balanchine und Jerôme Robbins, von dem modernen Felix Blaska und dem feinsinnigen Antony Tudor bis zu dem in England Mitte der 50er-Jahre aufsteigenden Kenneth MacMillan. Und sie hat sehr lange getanzt. „Ja, kleinere Sachen, wie 1997 die böse Stiefmutter in der ‚Cinderella‘-Version von Matthew Bourne und“, ein bisschen verschämt hinzufügend „mit 49 noch die Tatjana in Crankos ‚Onegin‘. Im letzten Akt war ich auch ganz gut. Aber im Schlafzimmerakt, im Negligee, da fand ich mich doch sehr deplaziert“, lacht sie herzhaft. Dennoch lässt sie diese „späte“ Rollenerfahrung als Herausforderung gelten. Denn dramatische Ballette wie „Onegin“, wie „Anastasia“ und „Mayerling“ von MacMillan haben Lynn Seymour, die Gestalterin, immer am meisten interessiert. In MacMillan fand sie auch den idealen künstlerischen Partner. Gleich zu Beginn seiner Karriere wird sie seine Muse, geht mit ihm nach Berlin, als er 1966 die Ballettleitung der Deutschen Oper für drei Jahre übernimmt. „Ich hatte ein intuitives Gefühl für das, was Kenneth wollte“, sagt sie. „Das war aber bei den meisten Choreografen so, auch bei Ashton. Er kam immer mit vielen Ideen, die wir Tänzer frei ausforschen konnten. Beide, Ashton und MacMillan, diktierten nichts, sie bezogen uns in den kreativen Prozess ein. Und genau das war für mich die Essenz, mein Lebenselixier überhaupt... nicht die Performance auf der Bühne, sondern der Weg dorthin, die Probleme, die es dabei zu lösen gilt.“ Und der Unterschied zwischen den beiden Meistern? Seymour: „MacMillan spürte dem Nerv seiner Zeit nach, traf sich mit den Ideen der Nouvelle Vague, mit dem Theater eines John Osborne, eines Tom Stoppard, eines Arnold Wesker mit seinem Spülstein-Naturalismus. Er war überzeugt, dass das Ballett ein großartiges Medium war, um psychologisch zu arbeiten, ein Medium auch, um die Wirklichkeit widerzuspiegeln. Ashton, ja auch 25 Jahre älter, liebte die Romantik. Er war ein Traditionalist – und er hatte ein großes Gefühl für Frauen. Aber er liebte die romantisch idealisierte Vorstellung von der Frau, so dass seine Figuren ein bisschen irreal, ein bisschen aus der Zeit gefallen waren.“ Vollkommenes VertrauenWie seine Duncan, eine Tänzerin, die zwischen Emanzipation und Naturmystik in schwelgerischen freien Bewegungen das Leben an sich befragt und feiert. Nicht so leicht, das in den Körper einer Staatsballett-Tänzerin zu bekommen, die es außerhalb der Ballettklassik eher mit den extremen Zeitgenossen Mats Ek, William Forsythe und Saburo Teshigawara zu tun hat. Aber Seymour, die sogar an der Pariser Oper für den damaligen Ballettchef, den in Sachen Interpretation ultrakritischen Rudolf Nurejew, coachen durfte, ist eine psychologisch äußerst geschickte Pädagogin: „Ich gebe so viele verschiedene Informationen wie möglich, durch konkretes Zeigen, aber auch durch Bilder und Metaphern, so dass die Tänzer ihren eigenen Zugang zur Rolle finden können. Und ich versuche, eine Atmosphäre des vollkommenen Vertrauens zu schaffen. Dann kann ich auch mal sagen: Das überzeugt mich nicht.“
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