Der transponierende „Kunstgriff“ war nun, gerade auch in Bezug auf Richard Wagners fragwürdige Helden, alles andere als originell. Seit den 90er-Jahren konnte man ihn landauf und landab bewundern. Mit Christoph Marthalers „20th Century Blues“ (Basel 2000) dürfte diese zunehmend wohlfeile Methode der „Aktualisierung“ den Höhepunkt erreicht haben. Zuletzt ließ Philipp Himmelmann den deutschen Libertin Heinrich Tannhäuser Züge des Dichterkomponisten Richard Wagner annehmen und die ganze romantische Oper unter freiem Himmel auf der Wartburg-Waldbühne spielen (Hannover, Januar 2007). Und selbst beim deutschen Hip-Hop ist die epochale Botschaft des Joseph Beuys inzwischen angekommen: „Auch du kannst ein Künstler sein“, tönt z.B. die Berliner Rap-Crew K.I.Z. Nach dem bereits in der niederdeutschen Provinz Durchdeklinierten konnte die Erhebung der altfränkischen Meistersinger-Geschichte in ein auch für kommunalpolitische Zwecke genutztes und mit Café-Zone ausgestattetes Museum also beileibe nicht mehr sonderlich innovativ wirken. Aber das Kunstverwahrungs-Ambiente gibt ein paar Gags her. Der Multi-Tasker Walther von Stolzing – frischwärts singend Klaus Florian Vogt – kommt im Outfit eines schmalzlockigen Popsängers von dort, woher ein aufmüpfiger Szene-Künstler heute eben so einsteigt: aus dem in einer rückwärtigen Nische wartenden Flügel. An dem simuliert er auch alsbald seine erste große Gefühlswallung für Eva, als wäre er der große Musikerotomane Franz Liszt persönlich. Die Angebetete und ihre Vertraute Magdalene reiben sich in der Nische nebenan die pummeligen Gesäße (bei Wotan, man wünscht sich spontan, dass die beiden rothaarigen Frauen auf einem halbwegs aktuellen Liebesmarkt nicht nur etwas vorteilhafter aussähen, sondern dass Amanda Mace und Carola Guber auch ihren Gesangspartien gewachsen wären). Die Verluste durch die Milieu-Verschiebung wiegen schwer: Der Tauf-Choral in der Katharinenkirche bleibt so funktionslos wie fast die ganzen Wagner‘schen Anspielungen auf das Schusterhandwerk. Hans Sachs bleibt hier nicht bei seinem Leisten, avanciert nicht einmal zum modernen Schuhhändler, sondern im offenen Hemd zum frei schwebenden Intellektuellen mit altmodischer Schreibmaschine. Außenseiter ist er vor allem als Kettenraucher (zum Qualmen muss der auch ansonsten mit der Kehle überforderte Franz Hawlata allemal austreten). Die Meister schlurfen als Bürokraten zum großen Tisch im Museums-Foyer; sie blättern in Vereinsunterlagen – demonstrativ uninteressiert an Walthers hochfahrender Selbstdarstellung, bei der dieser auch drei große Bilder aus seiner Produktion quer über die Tischplatte ausrollt.
Während der Kritiker Beckmesser ein für Fünfjährige geeignetes Puzzle mit der Stadtansicht von Alt-Nürnberg korrekt zusammenfügt, steht der Lösungsversuch Walthers auf dem Kopf. Ob damit bereits tiefgründig auf einen von Ernst Bloch 1965 publizierten Gedanken verwiesen wurde, nach dem der prinzipiell regelkundige, aber nach nächtlicher Prügelei von der Prüfungssituation beim Preisliedsingen augenscheinlich überforderte Beckmesser am Ende so etwas liefert wie „ersten Dadaismus oder was sonst an Wortlaboratorien anging“ (also insgeheim und ohne Vorsatz der „eigentlich“ Moderne im verquasten Kunstdiskurs der „Meistersinger“ sei), kann dahingestellt bleiben. Denn die Conclusio des klugen Textes zu Sachsens Gratwanderung blieb gänzlich unberücksichtigt. So muten die – offenkundig von Christoph Schlingensiefs naiv-raffinierten Bildmassierungen inspirierten – Regie-Aperçus zu Wagners Poetologie ebenso zufällig und fahrig an wie die womöglich kritisch gemeinten Andeutungen zur Rezeptionsgeschichte der nicht nur in größeren deutschen Zeiten als Inaugurationsstück in Beschlag genommenen „Meistersinger“. Sachs und Walther wirken bei Katharina Wagner schließlich auf fatale Weise an der – von einer wuchtigen Tribüne getragenen – Erhebung der deutschen Meister vor abendkleiduniformiertem Vernissage-Publikum mit, Sachs gar als ein in totalitäres Licht gerückter Tribun. Beckmesser hingegen lockert sich alternativ. Er setzt sich, im T-Shirt mit dem Aufdruck „Beck in Town“, als Aktionskünstler dem bürgerlichen Hohngelächter aus: Ein dem Müllcontainer entsteigender nackter Statist zerstört, womöglich als sein Alter Ego, eine Eva-Puppe; Beckmesser selbst – der stimmlich wie in der ihm zugemuteten Rolle überragend agierende Michael Volle – nestelt Schlauch (oder Schlange) aus dem Reißverschluss seiner Hose. Der Rollentausch zwischen den Protagonisten unbotmäßigen und angepassten Künstler-Seins hatte sich mit der johannisnächtlichen „Prügelfuge“ angedeutet. Ansonsten regnet es da Turnschuhe, reichlich Farbe kleckert und die Gipsbüsten setzen sich zu karnevaleskem Treiben, zum Zusammenprall der Künste in Bewegung. Im dritten Aufzug, nun in drastisch modernisiertem Galerien-Ambiente, werden sie – Hallo Wahn! – als aufgedunsene Gespenster zum Alptraum für den aus der Spur laufenden Sachs. Sebastian Weigle hatte als Dirigent in dieser Produktion keinen leichten Stand. Er leitete ein Orchester, dessen Mitglieder nun einmal nicht so perfekt aufeinander eingespielt sind wie die Wiener Philharmoniker an guten Tagen der Salzburger Festspiele oder die Berliner beim sommerfrischen Abstecher zur „Walküre“ nach Aix-en-Provence. Vielleicht ist die Zeit einer Ad-hoc-Orchester-Konstruktion wie die der Wagner-Festspiele insgesamt abgelaufen (aber es mag noch ein paar Jahre dauern, bis die Bayreuther Provinzialität größere Teile der Pilger verdrießt). Auch die Verantwortung dafür, dass die Inszenierung sich dem werkimmanenten Schustern so wenig stellt wie sie mit den – in Wort und Ton emphatisch verhandelten – Fragen der Liebe etwas anfangen will, geht nicht auf Weigles Konto. Der Umstand aber, dass der Zuschnitt der Tonspur und das Konzept der Inszenierung so wenig korrespondieren, lässt so manche detaillierte musikalische Liebesmüh ins Leere laufen und insgesamt keinen prägenden musikalischen Eindruck zurück. Der Schluss bleibt auf problematische Weise unbeholfen: Die im Verbund mit der ungebrochen apologetisch weitertönenden Musik so positiv auf den erhabenen Effekt zielende 70 Tonnen schwere Stahlkonstruktion fährt die Choristen hoch. Nach längst eingebürgertem Standard wurde ihnen die szenische Individualität geraubt und eine amorphe Masse vorgeführt (man mag diese Entpersönlichung hier als bloße Gedankenlosigkeit abbuchen und nicht als dreiste Anspielung auf die reichsseligsten Zeiten der Geschichte jenes Theaters, das die Regisseurin im Zustand der Gnade einer späten Geburt bedienen darf): Die Festwiesen-Kirmes wird zur Bambi-Preisverleihung, wobei das Rehlein zum veritabel röhrenden Hirsch avanciert. Der Scheck der Nürnberger Bank prangt telegen und die Protagonisten erstarren zum goldgerahmten Familienbild. Unübersehbar bleiben bei dieser Produktion die Schwierigkeiten mit der Kunst zu erben. Unbedenklich nimmt sich Katharina Wagner, offensichtlich eine ästhetische Rossnatur, aus dem Fundus des Regie-Theaters, was – vor den Augen eines weithin mit radikaleren Theater-Modellen nicht vertrauten Publikums – die Handlung noch einmal kräftig aufmischt. Sie spielt mit dem anderswo vor einiger Zeit noch Skandalträchtigen (aber noch nicht einmal kräftig antiautoritär aufbegehrend). Dann rafft sie sich zu einer milden Travestie der schönen neuen Medienwelt auf und hilft ihrer Kundschaft mit deren ambivalent-schönen Bildern „gute Geister bannen“. Ihr Urgroßvater hätte sich womöglich über solche Wirkung ohne tiefere Ursache mokiert. Die Frau, die sich anschickt, das Zepter auf dem Grünen Hügel zu übernehmen, weiß oder wittert, dass sie nicht „ohne Meister selig“ werden kann. Immerhin das. Frieder Reininghaus
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