Diskussionswürdiger war in jedem Fall das, was Stefan Herheim zum „Parsifal“ zu sagen hatte, dem in Bayreuth bis zu Schlingensiefs Gewaltakt noch unangetasteten Wagner-Heiligtum. Auf drei Ebenen versucht Herheim ihm die Bühnenweihe auszutreiben, mit unterschiedlichem Erfolg. Da wäre zum einen die Frage nach der schwer zu greifenden Hauptfigur selbst, die Herheim über die Formel vom „reinen Tor“ hinaus zu deuten versucht. Bei ihm wird Parsifal nicht allein „durch Mitleid wissend“, sondern vor allem durch die Erinnerung an eine Mitschuld. So sehen wir im Vorspiel den Knaben Parsifal, wie er seine im Sterben liegende Mutter Herzeleide verlässt und erst heimkehrt, als es zu spät ist. Im weiteren Verlauf wird das Sterbebett zum zentralen Ort der seelischen Innenschau auf Parsifals Verarbeitung des Kindheitstraumas. Kundry verschwindet nach dem Erkenntnis-Kuss darin und kehrt, zur Mutterfigur verwandelt, zurück; Herzeleide selbst gebiert dort einen Säugling, der in einem schaurigen Ritual vor der eigentlichen Gralsenthüllung geopfert wird. Auch Amfortas trägt mit rotem Haar und weißem Nachthemd deren Züge, was den eingewachsenen Christus-Dornen eine weitere Ambivalenz zuträgt. Dass dieser zunächst mit beeindruckender Vielschichtigkeit durchgeführte Ansatz langsam an Bedeutung verliert, liegt sicher nicht nur daran, dass der erste Aufzug auch als ein von Parsifal, der zweite als ein von Gurnemanz durchlebter Albtraum gelesen werden kann. Vielmehr gewinnen zwei weitere Interpretationsebenen zunehmend die Oberhand, die eng miteinander verwoben sind. Denn Herheim überblendet die Wagner‘sche Familiensaga mit der Rezeptionsgeschichte des Werkes seit der Uraufführung bis in die Frühphase der Bundesrepublik. Die Villa Wahnfried bildet dafür den nahe liegenden Handlungsraum, das Grab Wagners, zu dem der Souffleurkasten mutiert und dem schon der Knabe Parsifal huldigt, birgt den Gral – Lebensquell für die einen, Leidens-ort für die anderen. Die Soldaten, die am Ende des ersten Aufzugs vom Ritual gestärkt in den Ersten Weltkrieg ziehen, liegen zu Beginn des zweiten verwundet in Klingsors Lazarett, wo Revuegirls und Krankenschwestern Trost spenden. Kurze Zeit nur währt das Nazi-Reich, bis Parsifal es mit einem Speerstich ins Wagner-Grab vernichtet, um im dritten Aufzug als männliche Kaulbach-Germania den vertrockneten Brunnen im Wahnfried-Garten wieder zum Sprudeln zu bringen. Hier wäscht man sich den Dreck der Geschichte vom Leibe und bricht, die Entpolitisierungsparole der Wagner-Enkel zitierend („Hier gilt’s der Kunst“), in den Bundestag auf. Nach Reichs- und Naziadler, Schwan und einem verwundeten Bundesadler – hinzu kommen noch die als schwarze Engel der Geschichte beflügelten Personen selbst – sind wir am Ende der nationalen Identitätsfindung dann bei der Friedenstaube angekommen, ohne zu wissen, ob Herheim uns diese nun als wahre Utopie oder nur als neuen Fetisch auftischen will. In jedem Fall, so soll uns der erleuchtete Zuschauerraum vorspiegeln, ist es nach dieser Brachialexegese nun an uns, den Parsifal für die heutige Zeit neu zu denken und vor gefährlicher Vereinnahmung zu bewahren. Das alles hätte samt Videoeinspielungen eine in der Überfrachtung mühsame Erfahrung sein können, doch dank des – analog zum musikalischen Zeitverständnis des Werkes – virtuos sich dehnenden und wieder zusammenziehenden, beinahe zu variablen Bühnenbildes von Heike Scheele und der immer wieder verblüffend auf Fingerzeige aus der Musik reagierenden Personenführung Herheims war die Aufführung vor allem im ersten Aufzug von beachtlicher szenischer Dichte. Dirigent Daniele Gatti wiederum fand nur in der Kundry-Parsifal-Szene des zweiten Aufzugs zu einer solchen, ansonsten standen seinen Tempo-Dehnungen kaum dramatische Stauchungen gegenüber. Immerhin aber gewährleistete er einen differenzierten Orchesterklang, über dem Christopher Ventris und Mihoko Fujimura den bemerkenswerten Versuch machen konnten, die Wandlungen der Charaktere durch sich verändernde Stimmfärbungen hörbar zu machen. So steigerte Ventris seinen zunächst lyrisch verhangenen Tenor wohl ganz bewusst erst im zweiten Aufzug zu dramatisch gehärteter Fülle, eine Entwicklung, die ihm technisch besser und glaubhafter gelang als Fujimura, die nach dem Abstreifen ihres Marlene-Dietrich-Kostüms gleichwohl ergreifende Momente hatte. Auf gutem Niveau, ohne allerdings die notwendige deklamatorische Prägnanz zu erreichen, bewegten sich Kwangchul Youns Gurnemanz und Detlef Roths Amfortas. Thomas Jesatko fiel etwas ab. Verlass war, wie gewohnt, auf die Klangfülle und Differenzierung des Festspielchores unter Eberhard Friedrich. Ob dieser Parsifal indes die Festspiele aus der lange Jahre drohenden Stagnation erlöst hat, wird sich erst noch erweisen müssen. Juan Martin Koch
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