In der Oper „Die Passagierin“, die Weinberg 1968 auf ein Libretto Alexander Medwedews nach der gleichnamigen Novelle der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz vollendete, dringt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in tiefe Schichten vor. Denn die Erzählperspektive ist die einer Täterin, wohl einer der Gründe, warum das Werk zu Lebzeiten Weinbergs nicht aufgeführt wurde: Die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa wird während einer Schiffsreise durch die Begegnung mit einer geheimnisvollen Mitreisenden, der „Passagierin“ des Titels, auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen und muss diese Stück für Stück ihrem Mann Walter, der um seine diplomatische Karriere fürchtet, offenbaren. Die Handlung wechselt zwischen den Szenen auf dem Schiff und den nach und nach immer breiteren Raum einnehmenden Auschwitz-Rückblenden, was in Bregenz von Regisseur Pountney und seinem Bühnenbildner Johan Engels mittels einer klaren horizontale Trennung der Bühne umgesetzt wird. Das Wunder dieser Oper, ihre durch die Zeitzeugenschaft verbürgte Wahrhaftigkeit, besteht nun darin, dass Weinberg das Unaussprechliche weder durch vordergründige musikalische Schocks noch durch Betroffenheits-Pathos desavouiert. Die Gebete und Lieder der weiblichen KZ-Häftlinge rund um die Polin Martha, deren Vertrauen Lisa teils aus Sympathie, teils aus Berechnung zu gewinnen sucht, sind von einem melodischen Einfühlungsvermögen, das berührt, ohne die Figuren zu entblößen. Verstärkt wird dieses soghafte Eintauchen in seelische Ausnahmezustände – die intensiven Auseinandersetzungen Lisas mit ihrem Mann in der Rahmenhandlung nimmt Weinberg ebenso ernst – in David Pountneys souveräner, sich ganz in den Dienst des Werkes stellender Inszenierung durch die Entscheidung, nicht wie im Original durchgehend auf Russisch, sondern in den jeweiligen Landessprachen singen zu lassen. Die Partitur, die neben den eindringlichen Solopassagen und Dialogszenen auch Versatzstücke aus der Unterhaltungsmusik und einen als Lisas Gewissen gleichsam zwischen dieser erodierenden Glamour-Welt an Deck und dem Lager vermittelnden Männerchor kennt, kulminiert in einer musikalischen Konstellation, deren Wirkung in der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts einzig dastehen dürfte: Als die geheimnisvolle Passagierin der Schiffs-Combo einen Zettel zusteckt und diese daraufhin den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten zu spielen beginnt, kippt die Szenerie ein letztes Mal ins Lager um. Marthas Verlobter Tadeusz, ein begabter Geiger, soll besagten Walzer zum Besten geben, doch stimmt er stattdessen Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita an, woraufhin sein Instrument zertrümmert und er in die Todeszelle geführt wird. Weinberg dringt hier musikalisch zum Kern der Oper und ihres Themas vor, verwandelt die unantastbare Würde von Bachs Musik ohne jede Effekthascherei in eine ebenso schlichte wie erschütternde Metapher: Musik als menschliche Antwort auf unmenschliche Zustände, als ein letzter selbstbewusster Versuch, der barbarisch organisierten Vernichtung menschlichen Lebens den Spiegel der Kunst vorzuhalten. Neben dieser vom Prager Philharmonischen Chor, einem überragenden Sängerensemble und den von Teodor Currentzis zu einer Höchstleistung animierten Wiener Symphonikern getragenen Aufführung musste die zweite Weinberg-Oper fast zwangsläufig verblassen. „Das Porträt“ (1983), nach der Novelle Nikolaj Gogols, ist ein beachtliches Stück Musiktheater. Nicht vollständig gelungen ist dabei aber die Balance zwischen dem tief empfundenen Künstlerdrama und der Satire auf Gesellschaft und Kunstbetrieb. Was blieb, war der Eindruck, eine zentrale Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts entdeckt zu haben. Eine Zuschauerin sprach am Ende wohl allen Anwesenden aus der Seele, als sie die atemlose Stille vor dem Applaus ohne Pathos, aber mit fest entschlossener Stimme unterbrach: „Bravo, Weinberg.“ Juan Martin Koch
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