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Der unzuverlässige Chronist

Partiturfaksimile des „Sacre“ zum Hundertsten · Von Juan Martin Koch

  • „The Rite of Spring: Centenary Edition“ (Boosey & Hawkes)
    Ulrich Mosch (Hg.): Faksimile der Partiturreinschrift. Einleitung in Deutsch und Englisch; ISBN: 978-0-85162-813-4; € 175
  • Felix Meyer (Hg.): Faksimile der Klavierfassung zu vier Händen. Einleitung in Deutsch und Englisch; ISBN: 978-0-85162-822-6; € 99
  • Hermann Danuser und Heidy Zimmermann (Hg.): Avatar of Modernity. The Rite of Spring Reconsidered. 18 Essays in englischer Sprache; ISBN: 978-0-85162-823-3; € 79 Paketpreis (alle drei Bände): € 350 Zur Faksimile-Edition von Strawinskys „Sacre du printemps“

Im Oktober 1968, schon von Krankheit gezeichnet, hielt der 86-jährige Igor Strawinsky in Zürich noch einmal die autographe Partitur seines „Sacre du printemps“ in Händen. Als Geschenk des Verlages Boosey & Hawkes zu seinem 80. Geburtstag hatte es einige Jahre in einem Schweizer Banksafe gelegen, nachdem der Versuch, es durch seinen Sohn Théodore verkaufen zu lassen, gescheitert war.

Abb.: Paul Sacher Foundation/Boosey & Hawkes

Abb.: Paul Sacher Foundation/Boosey & Hawkes

Welche Preisvorstellungen der geschäftstüchtige Selbstmanager damals wohl hatte? Den Komponisten scheint angesichts der Notenhandschrift jedenfalls eine gewisse nostalgische Ehrfurcht ergriffen zu haben. So notierte er mit leicht zittriger Hand auf der letzten Seite ein Nachwort auf Russisch, das in der Übersetzung Andreas Wehrmeyers wie folgt lautet: „Mag sich der Hörer dieser Musik für immer vor jener Spießerei hüten, deren Zeuge ich im Frühjahr 1913 bei der Pariser Premiere der großen Aufführung des Sacre du printemps im Théâtre der ‚Champs-Elysées‘ wurde.“ Damit setzte er nicht nur einen späten Schlusspunkt hinter das Autograph seines berühmtesten Stücks, sondern nahm auch für ein letztes Mal noch einmal den Diskurs darüber in die eigene Hand. Am liebsten wäre ihm wohl gewesen, er hätte diesen niemals aus der Hand gegeben, wäre immer Herr darüber gewesen, wie der „Sacre“ aufzuführen und aufzufassen sei.

Auch in dieser Hinsicht dürfte der berüchtigte Skandal bei der Pariser Uraufführung für Strawinsky ein Schlüsselerlebnis gewesen sein. Schließlich führten ihm die Ereignisse des 29. Mai 1913 höchst anschaulich vor Augen, was einem Werk widerfahren kann, sobald man es in die Öffentlichkeit entlässt, der Rezeption überantwortet. Vielleicht nahm hier das seinen Ausgang, was einer der prägnantesten Wesenszüge Strawinskys nicht nur in Bezug auf den „Sacre“ werden sollte: Die Obsession, frühere Aussagen und Urteile zu revidieren. Sie brachte ihm unter Wissenschaftlern den Ruf eines chronisch unzuverlässigen Chronisten in eigener Sache ein.

Was das „Frühlingsopfer“ betrifft, so war Strawinsky jedenfalls Zeit seines Lebens bemüht, seine Partitur aus dem Dunstkreis der Ballettmusik herauszuholen, sie gleichsam den Niederungen der „Programmmusik“ in die Sphären der „absoluten Musik“ zu entheben. Präg-nantes Beispiel ist die Behauptung, sein früher Kommentar darüber, was er mit dem Werk habe „ausdrücken“ wollen (flankierend zur Uraufführung erschienen in der Zeitschrift „Montjoie!“), sei nicht authentisch. In dem gewichtigen Begleitbuch der nun zum hundertsten Geburtstag erschienenen Faksimile-Edition bei Boosey & Hawkes nimmt Stephen Walsh mit dem schönen Titel „Ce que je n’ai pas voulu exprimer dans ‚Le Sacre du printemps‘“ darauf Bezug („Was ich mit dem ‚Sacre du printemps‘ nicht ausdrücken wollte“). Geht es hier unter anderem darum, wie der Komponist sein Urteil über die Choreografien Vaslav Nijinskis und Léonide Massines immer wieder änderte, so beschäftigen sich weitere Autorinnen und Autoren in dem komplett in englischer Sprache verfassten Band mit anderen Aspekten dieses „Revisionismus“, bis hin zur kompositorischen Variante in den amerikanischen Symphonien („in C“ und „in drei Sätzen“). David Schiff („Everyone’s ‚Rite‘“) deutet sie als den Versuch, kompositorische Errungenschaften des frühen Balletts noch einmal für seine Konzertmusik fruchtbar zu machen.

Aus Ballettsicht lohnt speziell ein Blick auf Lynn Garafolas Aufriss der Geschichte von Diaghilevs „Ballets Russes“, auf Claudia Jeschkes Reflexion über Nijinskis choreografische Texturen und auf Stephanie Jordans Überblick über „Meilensteine“ der tänzerischen Sacre-Umsetzungen. Wer sich speziell für den Anteil Nicholas Roerichs, des Librettisten und Ausstatters der Erstaufführung, an der Urproduktion und dessen eigenen künstlerischen Wurzeln interessiert, erfährt in den Beiträgen von Paul Griffiths und Edmund Griffiths (sie prägen das hübsche Wortspiel von Roerich als „shaman“ und „showman“) sowie von John E. Bowlt Substanzielles. Nicht nur was diesen Beitrag betrifft, macht sich die üppige Ausstattung des Bandes bezahlt. Viele der eingeschobenen Schwarz-Weiß-Abbildungen sind am Ende in größerem Format und in Farbe nochmals abgedruckt.

Überwältigend ist schließlich der Eindruck des Faksimiles selbst. In Originalgröße (45 x 34 cm) und bestechender Druckqualität wiedergegeben, zieht Strawinskys minutiöse, über den Schreib-Raum souverän verfügende Handschrift den innerlich mithörenden Leser geradezu in die Partitur hinein. Die Blätterstellen vor manchen denkwürdigen Passagen scheinen beinahe dramaturgisch disponiert, die rhythmische Dichte und Tiefenschärfe ist mit Händen zu greifen. Nicht minder faszinierend ist die Handschrift der vierhändigen Klavierfassung, die in den Jahren von der Uraufführung bis zur Veröffentlichung der gedruckten Partitur 1921 als einzig verfügbares Notenmaterial die Verbreitung und Beurteilung des Epochenwerks maßgeblich beeinflusst hat. Auch über sie hätte man im Begleitbuch gerne mehr gelesen, aber das ist nur ein marginaler Einwand angesichts einer in jeder Hinsicht exemplarischen Edition.

Juan Martin Koch

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