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Eine musikalische Sensation
Verdis „Jérusalem“ in Bonn
Er gilt als der Vertreter der italienischen Oper schlechthin, seine Opern werden in allen Opernhäusern der Welt gespielt, und dennoch: Giuseppe Verdi hat immer noch seine unbekannten Seiten. Während Aida, Othello und Co. als gesetzte Titel auf den Spielplänen rund um den Globus erscheinen und viele Melodien aus Verdis Opern zum Allgemeingut geworden sind, wird sein Frühwerk von vielen Opernhäusern in geradezu sträflicher Weise vernachlässigt.
In Bonn ist man unter Generalintendant Bernhard Helmich angetreten, dies zu ändern und hat einen Zyklus mit frühen Opern aufgelegt, der in der letzten Spielzeit mit „Giovanna d‘Arco“ begonnen wurde und in der nächsten mit „Attila“ fortgesetzt wird. Gerade feierte nun „Jérusalem“ Premiere, ein Werk mit erstaunlicher Genese. Denn dahinter verbirgt sich kein anderes Stück als die 1843 uraufgeführte Oper „I Lombardi alla prima crociata“. Die Librettisten Alphonse Royer und Gustave Vaëz arbeiteten das Libretto der Vorlage um und verlegten die Handlung von der Lombardei nach Toulouse. Verdi schließlich komponierte viele Nummern neu, darunter auch ein für die „Grand Opéra“ französischer Provenienz typisches, in Bonn aus dramaturgischen Gründen jedoch gestrichenes Ballett und hatte damit ein Opus, mit dem er als aufstrebender Stern am Opernhimmel nun auch an der Pariser Oper mit Erfolg reüssieren wollte. Den zeitlichen und dramaturgischen Rahmen der Oper bilden die Kreuzzüge im 11. Jahrhundert, angereichert mit einer Verdi-typischen Liebesgeschichte: Sopran liebt Tenor, Bass liebt Sopran, wird aber ausgebootet.
Anna Princeva als Helene, Sébastien Guèze als Gaston, Franz Hawlata als Roger und Mitglieder des Ensembles. Foto: Thilo Beu
Damit ist man direkt beim künstlerischen Kern der Bonner Produktion, denn was diese zu einem großartigen, ja man kann ohne auch nur die geringste Übertreibung sagen beispiellosen Erfolg macht, ist die musikalische Seite. Will Humburg, der die einzige personelle Konstante im Bonner Verdi-Zyklus ist, peitscht das Beethoven Orchester mit einer – im besten Sinne – unnachgiebigen Vehemenz eines Sklaventreibers durch die Partitur, fordert alles und verausgabt sich bis zum Äußersten. Das Orchester hat in der bald endenden Ära des derzeitigen GMD Blunier ohnehin einen großen Sprung nach vorne gemacht, und dieser mit grandiosem Feuer, mitreißender Verve und viel klanglichem Feinsinn absolvierte Verdi ist ohne jeden Zweifel sein und Humburgs Meisterstück. Großartig auch das Sängerensemble, allen voran Chor und Extrachor der Oper Bonn unter ihrem neuen Chordirektor Marco Medved. Sie erweisen sich nicht nur als ausgesprochen stimmgewaltig, sondern agieren stets mit äußerster Präsenz und Präzision.
Was diese Produktion zu einem grossartigen, ja beispiellosen Erfolg macht, ist die musikalische Seite.
Die Hauptrollen sind brillant besetzt: Anna Princeva mit einer ohne jegliche Abstriche traumhaft schönen und technisch makellosen Stimme als Hélène, Sébastien Guèze als ebenso heldenhafter wie kerniger Gaston und der großartige Franz Hawlata als profunder und später geläuterter Bass-Bösewicht Roger. Aber auch Csaba Szegedi als heroischer Comte, Priit Volmer als hoheitsvoller Legat sowie Christian Georg, Giorgos Kanaris und Christian Specht runden diese in jeder Hinsicht ausgezeichnete Besetzung ab. Sie und das ganz Ensemble sorgen dafür, dass die musikalische Seite dieser Produktion so herausragend gelingt.
Csaba Szegedi (Graf von Toulouse) und Mitglieder des Bonner Opernchors. Foto: Thilo Beu
Szenisch gibt es zwar auch einige starke Momente, die aber die dem Stück immanenten Problemstellen nicht übertünchen können. Dass es solche Problemstellen gibt, zeigt sich nicht zuletzt an der Rezeptionsgeschichte der Oper. Nach der Pariser Premiere, der dort noch einige Aufführungen folgten, verschwand das Werk – einigen Wiederbelebungsversuchen zum Trotz – ziemlich tief in der Versenkung. So tief mithin, dass es sich bei der Bonner Premiere erstaunlicherweise um die deutsche Erstaufführung handelte – immerhin 169 Jahre nach der Uraufführung! „Jérusalem“ ist gegenüber dem Original, den „Lombardi“, zwar die eindeutig bessere Wahl, weil Thema und Handlung wesentlich stringenter sind, doch kann auch dies letztendlich nicht über die dramaturgischen Schwächen hinwegtäuschen. Denn Tableaux
und große statische Ensembleszenen gibt es hier zur Genüge, das Problem ist, diese dramaturgisch mit Leben zu füllen.
Dies gelingt Regisseur Francisco Negrin jedoch nur zum Teil. Er vermeidet einen eindeutigen Bezug zu aktuellen politischen Entwicklungen, die sich hier durchaus aufdrängen würden, ganz bewusst und erlaubt sich durch stilisierte Kostüme (Domenico Franchi) allenfalls den Hauch einer historischen Bezugnahme. Auch das Bühnenbild (Paco Azorin) setzt auf zeitlose Symbolhaftigkeit. Es besteht aus einem langen grauen Tunnel aus verschiebbaren Elementen, die große Öffnungen haben. Hinzu kommen Lichtinstallationen von Thomas Roscher, die eine eindringliche, ja zuweilen geradezu hypnotische Wirkung haben. Alles in allem zeichnet sich gerade die szenische Komponente durch einen hohen Abstraktionsgrad aus. Das schafft einige Bilder mit enormer Suggestionskraft, löst aber nicht die dramaturgischen Probleme dieser Oper. Das gelingt auch Negrins wenig origineller, aber durchaus routinierter Personenregie nicht wirklich. Sie sorgt für einige starke Bilder und lässt den inneren Kampf der Protagonisten nicht zuletzt durch die überwiegend glaubwürdigen schauspielerischen Leistungen der Darsteller nachempfinden, doch darüber hinaus bleiben viele Fragen offen.
Guido Krawinkel |