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Schwerpunkt: Tanz

Reform und Revolution

Handlungsballett im 18. Jahrhundert

Von Dagmar Ellen Fischer

„Tanz und Ballett sind heute, Monsieur, die Modenarrheit; die allerkleinste Provinztruppe zieht mit einem Schwarm von Tänzern und Tänzerinnen umher; was sage ich? Die Spaßmacher und Quacksalber rechnen mehr auf die Wirkung der Ballette als auf die ihrer Balsame.“[1] Mit solchen Worten empörte sich Jean Georges Noverre Mitte des 18. Jahrhunderts über den Missbrauch der Tanzkunst auf Jahrmärkten. Der französische Tänzer, Choreograf und Ballettmeister ereiferte sich über Praktiken, die er nur allzu gut kannte, hatte doch seine eigene Laufbahn genau dort in Paris ihren Anfang genommen: „Ab 1743 gehörte der 16-jährige Noverre der Ballett-Truppe der Opéra-Comique am Foire St. Laurent an [...].“[2] Das Jahrmarkttheater – „le théâtre de la foire“ – residierte in den Bezirken Saint-Laurent und Saint-Germain; dort war es in der Tat nicht unüblich, Publikum mit virtuosen Kunststückchen anzulocken, um dann im weiteren Verlauf bei Bedarf die Körper der Zuschauer zu behandeln: Abgefüllte (All-)Heilmittel gehörten ebenso zum Service wie Zähne-Ziehen und das Amputieren von Gliedmaßen.

Der 1727 in Paris geborene Noverre zog jedoch die Spezialisierung auf Ballett vor, noch im selben Jahr tanzte er im Ensemble an der soeben fertiggestellten Königlichen Oper Unter den Linden in Berlin. Nicht in seiner Eigenschaft als Tänzer sollte er jedoch Tanzgeschichte schreiben, sondern als Reformator dieser Bühnenkunst, die im 18. Jahrhundert das Handlungsballett hervorbrachte: „ballet en action“, wie Noverre selbst es nannte. Seine berühmte, 1760 erschienene Publikation „Lettres sur la danse et sur les ballets“ ist eine Art Bestandsaufnahme über den Zustand des Bühnentanzes seiner Zeit. Nach seinem choreografischen Erstling – „Le Jugement de Paris“ 1751 – hatte er in Paris, London und Lyon als „Compositeur“ von Balletten gewirkt; folglich konnte er sowohl die Missstände benennen als auch entsprechende Vorschläge zur Verbesserung machen. Dafür wählte er die seinerzeit modische Briefform, wie im eingangs zitierten Abschnitt durch die Anrede „Monsieur“ ersichtlich. In 15 Kapiteln – oder eben Briefen – listet er detailliert auf, was sich ändern müsse, damit sich der Bühnentanz zu einer lebendigen Kunst entwickeln könne. So forderte er beispielsweise das generelle Abschaffen der Gesichtsmasken, die keinerlei Mimik der Tanzenden erkennen ließen. Diese aber bilde, gemeinsam mit Gesten und Gebärden, die Voraussetzung dafür, dass eine Bühnendarstellung die Menschen im Zuschauerraum überhaupt erreiche. Noverre war daran gelegen, die Tanzkunst „der Wahrheit näherbringen“ zu können, folglich müsse man sich „von den sklavischen Regeln der Schule entfernen, um den Eindrücken der Natur zu folgen und dem Tanz die Seele und die Aktion zu geben, die er haben muss, um zu fesseln“.[3]

Diese Forderung ist eine klare Absage an die „Académie Royale de Danse“, an deren Reglement, an die definierten Positionen für Arme und Beine sowie an das festgelegte Repertoire der Bewegungen. Noverre forderte stattdessen ein „ballet en action“: „Aktion beim Tanz ist meines Erachtens die Kunst, durch den wahren Ausdruck unserer Bewegungen, unseres Gestus und der Mimik dem Zuschauer unsere Empfindungen und Leidenschaften mitzuteilen. Aktion ist nichts anderes als Pantomime.“ Und: „Die wahre Pantomime (...) folgt der Natur in allen ihren Nuancen.“[4] Es wäre also unmöglich, die zahllosen Nuancen menschlicher Gefühle, Leidenschaften und Affekte vermitteln zu wollen, indem man einen bestimmten Kanon an Körperbewegungen benutzt. „Daraus folgt, dass in einem Tanz mit Handlung die trockenen Schulregeln dem Natürlichen weichen müssen.“[5]

Weichen müssten unter diesem Gesichtspunkt, so forderte Noverre, weitere lieb gewordene Gewohnheiten: „Werft die großen grässlichen Perücken, diese ungeheuren Aufsätze weg, die den Kopf um das richtige Verhältnis zum Körper bringen! Schafft den Gebrauch der runden, steifen Fischbeinröcke ab, die die Ausführung des Tanzes aller Schönheit berauben.“[6]

Damit Neues überhaupt eine Chance gegenüber herrschenden Traditionen habe, sei es notwendig, die nächste Generation entsprechend zu unterweisen. Zukünftige Tänzer sollten „ihre Zeit und ihr Studium zwischen dem Geist und dem Körper gleichermaßen aufteilen und beide Gegenstand ihrer Betrachtungen werden“ lassen. „Selten regiert der Kopf die Beine, und da der Verstand und das Genie ihren Sitz nicht in den Füßen haben, verirrt man sich sehr oft.“[7] Und natürlich durfte der neue Tanz nicht von alter Musik begleitet werden; Werke von Lully genügten Noverres Ansprüchen nicht, Jean-Philippe Rameaus Kompositionen hingegen schätzte er sehr. Für die konkrete choreografische Umsetzung bedeutete das: Hatte man im Barock symmetrische Motive und ebensolche Raumwege bevorzugt, so stellte Noverre fest, dass diese ungeeignet zur Darstellung dramatischer Spannungsmomente sind, seine Werke brauchten zu diesem Zweck asymmetrische Konstellationen, wie beispielsweise eine einseitig den Raum durchziehende Diagonale. Noverre konnte die eigenen Ansprüche längst nicht immer und überall verwirklichen, denn auch er unterlag dem Geschmack seiner Auftraggeber und muss-te Kompromisse eingehen. Am Hof des Herzogs Karl Eugen von Württemberg jedoch fand er Arbeitsbedingungen, die es ihm erlaubten, seinem Ideal näher zu kommen: „Medée et Jason“, 1763 in Stuttgart uraufgeführt, war ein eigenständiges Ballett – also keine Einlage in einer Oper, wie noch oft üblich – mit einer der griechischen Mythologie entlehnten Handlung: Medea rächt sich am untreuen Gatten Jason, indem sie die gemeinsamen Kinder und ihre Rivalin tötet. Die männliche Titelrolle tanzte Gaetano Vestris, der tatsächlich einige von Noverres postulierten Neuerungen umsetzte.
Auch wenn man in erster Linie Jean Georges Noverres Namen mit der bedeutenden Ballettreform in Verbindung bringt – er war nicht allein mit seinen Ideen und Idealen. Schon 1754 hatte Louis de Cahusac ein Traktat zur Tanzkunst veröffentlicht, in dem er eine Poetik der Tanzkunst forderte, und diese Publikation dürfte Noverre bekannt gewesen sein. Auf choreografischem Gebiet leistete Franz Hilverding Pionierarbeit, der spätestens während seiner Zeit als Hoftanzmeister in den 1750er-Jahren in Wien dramatische Elemente in seine Werke einführte. Hilverdings Schüler und Nachfolger Gasparo Angiolini ließ sich auf einen offen ausgetragenen Streit mit Noverre ein, der wesentlich zur Wahrnehmung der Notwendigkeit einer Ballettreform beitrug. Angiolini warf Noverre vor, Hilverdings Ideen gestohlen zu haben. Tatsächlich gibt es deutlich frühere Zeugnisse von Handlungsballetten. Als erstes seiner Art wird das 1717 in London uraufgeführte „The Loves of Mars and Venus“ gewertet.[8] Lib-
retto und Choreografie stammten von John Weaver, Tänzer und Tanztheoretiker. Jahrzehnte vor Noverre verfasste er sowohl eine Tanzgeschichte als auch ein Traktat zur Kunst der Pantomime, die er sich auch in seiner praktischen Arbeit zum Vorbild nahm. (Und auch sein Ballett „The Judgement of Paris“ mit dem Uraufführungsjahr 1733 ist deutlich älter als Noverres Umsetzung des gleichen Themas.)

Dass London zu jener Zeit fortschrittlicher war als die europäische Hauptstadt des Tanzes Paris, zeigt sich besonders gut am Beispiel von Marie Sallé. Auch sie war ein Kind des Pariser Jahrmarkttheaters, wo sie von klein auf den Publikumsgeschmack kennenlernte. Später stieg sie zum Star der Pariser Oper auf, doch nicht dort, sondern in England konnte sie ihre Vision präsentieren, „wie die Tanzkunst generalüberholt werden müsse. 1734 zeigte sie im Londoner Covent Garden (...) ihre Vorstellung von der Zukunft des Balletts: In ‚Pygmalion‘ verkörperte sie eine Statue, die zum Leben erwacht, mit offenem Haar, in Sandalen und einer griechischen Tunika, also ohne das bis dahin obligatorische Korsett und den gründlich entstellenden Reifrock, doch vor allem: in ihrer eigenen Choreografie!“[9] Da die (vermutlich) 1707 geborene Künstlerin im Geburtsjahr Noverres an der Pariser Oper debütierte, sind auch ihre Innovationen rund eine Generation älter.

Parallel zu Sallés Karriere verlief die ihrer größten Rivalin Maria Camargo – mit ähnlichem Erfolg beim Publikum. Beide initiierten Änderungen am Bühnenkostüm für weibliche Tänzerinnen, was ihre Konkurrenz eher verstärkte. „La Camargo“ verdankt ihre Berühmtheit einem Zufall: Als ein Kollege seinen solistischen Auftritt verpasste, sprang sie kurzerhand ein und absolvierte die bis dahin nur Tänzern vorbehaltenen Sprünge derart souverän, dass sie diesen technisch anspruchsvolleren Bereich, einmal erobert, nicht wieder abgeben wollte. Folglich ersetzte sie die Absatzschuhe durch solche, die auf ganzer Sohle Bodenhaftung haben, was für eine Sprungvorbereitung unerlässlich ist. Bei bodenlangen Kostümen indes konnte das Publikum die Virtuosität nicht bewundern, weshalb Camargo kurzerhand die Rocklänge um einige Zentimeter kürzte. Als sich der Skandal um sichtbare weibliche Fußknöchel gelegt hatte, folgten unzählige Nachahmerinnen.

Im 18. Jahrhundert bildete der Starkult unter männlichen und weiblichen Tänzern Titel aus wie „La Reine de la Danse“, den sich Anna Friederike Heinel verdiente, und den „Gott des Tanzes“, den sowohl Vater als auch Sohn Gaetano und Auguste Vestris für sich beanspruchten. Marie-Madeleine Guimard handelte sich aufgrund ihrer extremen Schlankheit den Beinamen „Skelett der Grazien“ ein.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert spiegeln zwei Ereignisse das damalige Spek-trum des Tanzes: Im Sommer des Jahres 1778 wird in der Pariser Oper Noverres „Les petits riens“ uraufgeführt, zu dem Mozart – neben anderen Komponisten – Musik beisteuerte; die „kleinen Nichtigkeiten“ in typischer Schäfer-Rokoko-Atmosphäre sind heute vergessen, trotz des Busen-Enthüllens als gezielt gesetzter Frivolität. Einer der Mitwirkenden war Jean Dauberval. Er kreierte nur ein Jahr später in Bordeaux „La Fille mal gardée“, in dem erstmals ein Bauernmädchen im Mittelpunkt eines Handlungsballetts tanzte. Am 1. Juli 1789 uraufgeführt, zwei Wochen vor dem Sturm auf die Bastille, war hier weniger Reform, dafür schon Revolution spürbar. „Das schlecht behütete Mädchen“ gehört – wenn auch in neuer Choreografie – bis heute zum Repertoire internationaler Ensembles.

Dagmar Ellen Fischer


1 Ferdinando Reyna, „Das Buch vom Ballett“, Köln 1981, S. 59
2 Sibylle Dahms, „Der konservative Revolutionär. Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts“, München 2010, S. 32
3 Jean Georges Noverre, „Briefe über die Tanzkunst“, neu ediert und kommentiert von Ralf Stabel, Leipzig 2010, S. 119
4 Ebenda, S. 120
5 Ebenda, S. 121
6 Ebenda, S. 38
7 Ebenda, S. 129
8 Vgl. Derra de Moroda, „Franz Anton Christoph Hilverding“, in: Horst Koegler (Hg.), „Ballett 1967. Chronik und Bilanz des Ballettjahres“, S. 50
9 Dagmar Ellen Fischer, „Eine kurze Geschichte des Tanzes, Leipzig 2019, S. 134

 

 

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