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Schwerpunkt: Tanz

Brüche und Brücken

Die Tanzkunst auf dem Weg in die Moderne

Von Dorion Weickmann

Im April 1913, unmittelbar nach Eröffnung des Théâtre des Champs-Elysées, empfängt der Direktor Gabriel Astruc hohen Besuch. Serge Diaghilew, der Impresario der Ballets Russes, besucht das Haus gemeinsam mit Igor Strawinsky, der hier demnächst „Le Sacre du printemps“ zur Uraufführung bringen soll – längst Stadtgespräch von tout Paris. Was im Verlauf der Visite passiert, hält Astruc in seinen Memoiren fest. Der Komponist steuert schnurstracks Richtung Bühne, lässt seinen Blick von der ersten Sitzreihe aus in die Tiefe schweifen und fällt dann in einem „Ton, der keinen Widerspruch duldet“, ein ernüchterndes Verdikt: „Der Orchestergraben ist zu klein.“ Das „Frühlingsopfer“ ist für 84 Mann ausgelegt, vier mehr als hier hineinpassen. Obwohl das Gebäude aus Stahlbeton ist, drohen die Gäste mit Rückzug: entweder Vergrößerung des Grabens oder Verzicht auf die Uraufführung von „Sacre“. Was tun? Gabriel Astruc beißt in den sauren Apfel, aber am Ende der Saison muss er Konkurs anmelden. Die Schuld dafür sieht er nicht zuletzt im stattgehabten „Erdbeben“, sprich: im Publikums-Tohuwabohu, das die Premiere von „Sacre“ begleitet hat – samt Schelte, die danach auf ihn und die Produktion niederprasselte.

Über hundert Jahre später ist klar: Musik, Ausstattung und Vaslav Nijinskys Choreografie von „Le Sacre du printemps“ entfesseln nicht weniger als eine Revolution auf der Tanzbühne. Sie wird zum Ausgangspunkt einer Neuausrichtung des Balletts – auch wenn das Original nach nur wenigen Aufführungen in der Versenkung verschwindet und erst 1987 rekonstruiert wird. Obwohl das Revival aufgrund der Überlieferungslücken umstritten ist, vermittelt es einen Eindruck von der umstürzlerischen Spannkraft des „Frühlingsopfers“, über das sich Ende Mai 1913 die kunstsinnigen Honoratioren der französischen Kapitale empörten. Rückblickend gleicht das Ereignis einer tektonischen Erschütterung, deren Ausläufer die Tanzlandschaft genauso veränderten wie die Erosion alles Akademischen, die Anhänger der Ausdrucksemphase zeitgleich vorantrieben. Welche Energien sind hier am Werk, wo entspringen und wohin führen sie?

Reformprojekte: Hellerau und Monte Verità

1902 debütiert die Amerikanerin Isadora Duncan auf deutschen Bühnen, sozusagen im Schlepptau ihrer Landsfrau Loïe Fuller, die schon mit sagenhaften Serpentinentänzen – Illusionen aus Licht, irisierenden Stoffen und Stäben – Furore gemacht hat. Zur gleichen Zeit tüftelt der Schweizer Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze an einem System der rhythmischen Gymnastik, das er wenig später an die Schülerschaft seiner „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus“ weitergibt, angesiedelt im progressiven Milieu der Gartenstadt Dresden-Hellerau.

Duncan und Jaques-Dalcroze verfolgen unterschiedliche Ansätze. Sie sucht „nach der Quelle eines spirituellen Ausdrucks, der in den Körper fließt und ihn mit Schwingungen von Licht erfüllt“. Dieser Tanz ist Seelenabdruck, empfänglich und empfindsam und obendrein ein Fanal der Befreiung im korsettlosen Reformgewand. Jaques-Dalcroze dagegen verlangt, dass Tänzer „die von den Urempfindungen und ungestümen Antrieben des Seins ausgelösten Schwingungen in die körperliche Dimension transponieren“. Essentialismus hier, Spiritualismus dort – abgesehen vom Streben nach Form werden diese beiden Zeitgeistströme das Gepräge des Tanzes im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmen.

Über alle Differenzen hinweg bewundern sowohl Duncan als auch Jaques-Dalcroze die antike Ästhetik, das theatrale Gegen- und Zusammenspiel dionysischer und apollinischer Prinzipien. Nicht anders verhält es sich mit dem dritten Innovations-Akteur, der sozusagen als Doppelwesen auf den Plan tritt: in Gestalt Vaslav Nijinskys und seines Mentors (und Liebhabers) Serge Diaghilew, dessen Ballets Russes 1909 erstmals in Paris gastieren und kometengleich einschlagen. Denn während der Westen die akademische Tanzkunst spätestens in der Belle Époque zur gehobenen Unterhaltungsware degradiert hat, hielten am Zarenhof Exilfranzosen – allen voran Marius Petipa – die Tradition in Ehren und setzten ihr mit neoromantischen Sagas à la „Schwanensee“ betörende Glanzlichter auf. Diaghilew aber – begnadeter Talentscout mit Kunst-, Kultur- und Kommerzverstand – Diaghilew also engagiert die Besten der Besten, fördert und fordert und spornt sie mit einem wohlgemuten „Étonnez-moi“ zu avantgardistischen Gesamtkunstwerken an: Musik, Ausstattung und Choreografie gehen unter seiner Ägide Hand in Hand.

Entscheidende Vorwärtsimpulse empfangen sowohl das Ballett als auch der Ausdruckstanz zunächst von Jaques-Dalcrozes Schule in Dresden-Hellerau. Im Kulturidyll über dem Elbtal finden sich zeitversetzt die jeweils tonangebenden Persönlichkeiten ein, um Inspiration zu tanken und bei Gelegenheit sogar Künstler/-innen abzuwerben. So heuern Diaghilew und Nijinsky bei einer Visite der Bildungsanstalt Myriam Ramberg an, die „Le Sacre du printemps“ gestalterisch auf die Beine helfen und später unter dem Namen Marie Rambert die Tanzmoderne nach Großbritannien exportieren wird. Mary Wigman, künftige Galionsfigur des Ausdruckstanzes, nimmt in Hellerau Unterricht, bevor sie weiterzieht zum „Berg der Wahrheit“ am Ufer des Lago Maggiore. Monte Verità heißt die erste Aussteiger-Kolonie des 20. Jahrhunderts, Graswurzelinitiative und antibürgerliche Opposition in einem, die den Kampf gegen zivilisatorische Degeneration, freie Liebe, kollektive Performances und die salutogenetischen Vorzüge der Lebensreform propagiert – eine Attraktion für Vor-, Frei- und Querdenker, Gesundheitsapostel, Tag- und Nachtträumer von Erich Mühsam über Rudolf Steiner bis Otto Gross. Zur regelmäßig anreisenden Künstlerschar zählt Rudolf von Laban, der hier ab 1913 allsommerlich Freitanzexerzitien veranstaltet. Unter seiner Obhut erschließt sich Wigman esoterische Gefilde à la „Sang an die Sonne“ (1917) & Co, bis sie schließlich fest auf eigenen Beinen steht, eigene Eleven und vor allem Elevinnen um sich versammelt und zur prominentesten Vertreterin des expressiven Tanzgenres avanciert. Allerdings laboriert die Szene auch an der einen oder anderen Anfälligkeit für exaltierte Sektiererei, manche Fortschrittskräfte neigen dem Rückschritt einer apolitischen Geisteshaltung zu. So verheddern sich später einige in den Fallstricken des III. Reichs, was dem Ausdruckstanz insgesamt einen Strömungsabriss beschert.

Linien und Leitmotive

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aber gelingt ein staunenswertes Revirement der Tanzkunst. Von hier aus ziehen sich Leitmotive und genealogische Linien durch die Moderne, die trotz Unterbrechungen enorme Wirksamkeit entfalten. Das gilt zunächst für den Ausdruckstanz, der sich in den 1910er-Jahren zu erster Blüte aufschwingt. Beseelt von der Idee, Tanz und Musik voneinander zu lösen und die Bewegungskunst auf Augenhöhe mit den Schwesterkünsten zu platzieren, modelliert Rudolf von Laban die passende Theorie samt methodischer Praxis. Der hochtalentierte Zeichner entwirft geometrische Gebilde in vitruvscher Manier und rastert kinetische Strukturen mittels sanfter Schwingungsbögen, später mithilfe der „Kinetographie“. Was Laban vorschwebt, erläutert der Autor Hans Brandenburg 1917: „die Trennung zwischen Körper- und Intellektwesen wird aufgehoben, … indem die apollinische Geistigkeit an das ursprüngliche dionysische Menschheitsziel … wieder angeknüpft wird, an das Ziel: der ganze Mensch.“ Ganzheitlichkeit ist das Ideal schlechthin, das auch soziale Dimensionen berührt: Laban choreografiert Bewegungschöre, gleichsam in Annäherung an den „religiösen Charakter“ der Gemeinschaft und in Abgrenzung zum tanzdramatischen Schaffen, wobei das emphatische Niveau hier wie dort hohe Amplituden erreicht.

Mary Wigman wiederum emanzipiert sich von Laban und wird ihrer eigenen Begrifflichkeit nach zur Pionierin des „absoluten Tanzes“: „Tanz lebt aus dem Urgrund eines noch ungeteilten Lebensgefühls, ist Bekenntnis zum menschlichen Sein“, sein Generalthema „Wandel und Wechsel seelischer Zustände“. So Wigmans Wegweisung, die sich als Credo des Ausdruckstanzes deuten lässt, auch wenn das Etikett eine Fülle höchst unterschiedlicher Künstler, Künstlerinnen und Kunstwerke versammelt – ein Spektrum, das sich in der Weimarer Republik von den Mimodramen einer Valeska Gert über barbusiges Entertainment und sozialkritische Bewegungspanoramen bis zu Wigmans bildmächtigen Soloauftritten, Marke „Hexentanz“ (1914 ff.), erstreckt. Eines indes ist allen Spielarten gemein: Der „Ausdruckstanz“ ist keine formlose Angelegenheit. Ganz im Gegenteil gilt, was ein Wegbegleiter Wigmans als Devise notiert: „Stärkster Ausdruck als klarste Form: Das ist das Geheimnis und Wesen der Kunst.“

Die Geburt des Tanztheaters

Was Stil, Inhalt, Optik und ästhetisches Gefüge betrifft, kommt es in allen Künsten zu einer radikalen Neuorientierung: Realismus und Naturalismus haben ausgedient, Symbolismus und Abstraktion treten an ihre Stelle. Der Tanz macht keine Ausnahme, sondern wagt sich in Riesenschritten voran. So etwa mit Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ (1922): Schlemmers Kostümskulpturen verlangen performative Qualitäten, wie sie bis dato allenfalls in Dada-Masken und -Monturen erprobt wurden. Der Bauhaus-Meister steckt die Tänzer in erlesen dekorierte Drahtgestelle, auf dass sie sich mit dem Material und zugleich gegen seinen Widerstand behaupten müssen. Gesichtsmasken tragen auch die Polit-Protagonisten an Kurt Jooss’ „Grünem Tisch“. 1932 inszeniert der Laban-Schüler sein Antikriegsballett, das die zynische Verhandlungslogik der Potentaten und den Blutzoll, den Gevatter Tod erhebt, aneinander montiert. Jooss selbst zählt zu den Unbeugsamen, er übersteht das III. Reich in der Emigration. Nach dem Krieg leistet er Aufbauarbeit an der Folkwang Hochschule in Essen, wo er nicht zuletzt eine Nachwuchskünstlerin betreut, die zur Doyenne des bundesdeutschen Tanztheaters aufsteigen wird – Pina Bausch. Die DDR kann mit Gret Palucca an die Ära des Ausdruckstanzes anknüpfen, während Westdeutschland sich nach der Stunde Null eher auf‘s Klassische besinnt, wenn auch mit durchaus avancierten Einschlüssen.

Mit Pina Bausch, die 1973 die Wuppertaler Tanzdirektion übernimmt und ein jährliches Premierenkarussell anwirft, das sie vorzugsweise mit Beziehungsimpressionen und Gesellschaftscollagen bestückt, erreicht der tanztheatrale Reformstrang eine Art Höhepunkt und Vollendung. Dabei gerät das klassische Pendant jedoch nie außer Sicht- und Reichweite. Schließlich hat Bausch das Ballett nie verdammt und noch dazu eine inzwischen kanonisierte „Sacre“-Version vorgelegt, die in Lizenz von Weltkompanien wie dem Pariser Opernballett nachgespielt wird: Männer und Frauen exekutieren das altbekannte Ritual als Daseinsclinch in einer knöcheltief mit Torf bedeckten Landschaft.

Hier schließt sich der Kreis. Einst hat Vaslav Nijinksys Choreografie die Partitur regelrecht in den Raum gestanzt. Kreise, Rhomben, Vielecke gliedern 1913 das Geschehen, zitternde Körper, einwärts gedrehte Füße, zu Fäusten geballte Hände hebeln alles aus, was der Danse d’école von jeher heilig ist. „Le Sacre du printemps“ versetzt das Ballett kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Zukunftsschwingung und taucht es in Ekstase und Expression. Diaghilew und die Ballets Russes werden zum Labor einer Moderne, die das klassische Idiom nicht umstandslos entsorgt, sondern im Gegenteil generalsaniert. Der Regisseur dieses Vorgangs heißt George Balanchine, stammt aus Sankt Petersburg, geht 1924 in den Westen und liefert Diaghilew mit „Apollon musagète“ (1928) einen Geniestreich: drei Ballerinen, ein Tänzer, kaum Kulissen, kaum Requisiten, dafür eine Tanzsprache, die das Ballettvokabular varianten- und variationsreich permutiert und so die Neoklassik begründet. Ein halbes Jahrhundert später wird ein choreografischer Nachfahr Balanchines Semantik zerlegen, die Einzelteile inspizieren, rekombinieren und als postmodernes Mosaik neu zusammensetzen: William Forsythe, bis 2004 Chef des Ballett Frankfurt, ist der bis dato letzte Ballettstürmer, dem tatsächlich ein Quantensprung gelingt.

Was bleibt von all diesen An-, Auf- und Umbrüchen, von den Brücken, die auf dem Kontinent des Tanzes die unterschiedlichsten Regionen miteinander verbinden? Alles und nichts. Wir können Fährten verfolgen, Spuren lesen, Vernetzungen markieren. Wir können dynamische Prozesse beleuchten, Karrieren und Künstlerallianzen bestaunen. Doch die Essenz – der Tanz an sich – entzieht sich. Immerhin strahlt noch sein Widerschein aus Büchern, Archiven, Fotografien und entzündet von dort aus unsere Phantasien. So gesehen, ergibt Gabriel Astrucs Begegnung mit den Titanen der Ballets Russes: ein halbfiktives, aber besonders schönes Gedächtnismonument.

Dorion Weickmann

 

 

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