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Schwerpunkt: Tanz

Neue Bewegung(en)

Neoklassik und Postmoderne

Von Wiebke Hüster

Oft ist beschrieben worden, wie der Neoklassizismus im Tanz von den späten zwanziger Jahren an eine Periode romantischer Überspanntheit in der Niedergangszeit der Klassik abgelöst habe und zu non-narrativen, den Tanz als autonome Sprache auffassenden, neuen, aus der klassischen Ballett-Technik entwickelten Formen gefunden habe. Man weiß, dass der Ballettmeister Marius Petipa, dessen glanzvolle Choreografien in St. Petersburg die Jahrzehnte bis zur Wende zum zwanzigsten Jahrhundert überstrahlten, am Ende seiner Karriere den Zarenhof verlassen musste und seine letzten Jahre einsam auf der Krim verbrachte. Damals dachte man, sein Stil, seine Erzählweise, seine Sujets hätten sich überlebt, seine Form des großartigen, weitschweifigen und prächtig ausgestatteten Handlungsballetts wäre auserzählt. Exotische Protagonisten, ferne Gestade, Paläste, Wälder, märchenhafte Handlungen und magische Verwandlungen, tanzende Katzen und fluchende Feen – daran hatte man sich sattgesehen.

Das Zeitgefühl änderte sich dramatisch. Die Epoche, in der man nach dem Dinner mit Freunden in die Oper ging und den Abend in seiner Loge verbrachte, ging zu Ende.

Das Leben nimmt plötzlich ungeheuer an Fahrt auf. Dorniers erstes Wasserflugzeug mit acht Fluggästen an Bord erhebt sich in die Lüfte und landet auch wieder sicher. Die Luftreisenden trinken Champagner. Am Boden erreicht der erste raketenangetriebene Rennwagen eine Geschwindigkeit von 260 Stundenkilometern. Die Frauen haben keine Zeit und keine Lust mehr, sich das Haar hochzustecken und schneiden es einfach auf Kinnlänge ab. Es ist unpraktisch, mit Kleidern herumzugehen, deren Säume den Boden berühren und ständig schmutzig werden, also werden kürzere Saumlängen Mode. Wer verfügt noch über die Kammerzofe, die man braucht, um ein Korsett zu schnüren? Weg damit. Es hat eine Revolution gegeben, neue politische Ideen haben gesiegt. Es waren bereits im 19. Jahrhundert Migranten, die die Tanzkunst entwickelten – Petipa wurde in Marseille geboren und arbeitete in Paris, bevor er nach Russland auswanderte, August Bournonville verließ Frankreich ebenfalls und begründete in Kopenhagen die dänische Romantik des Tanzes. Nun versammelt der Impressario Sergej Diaghilew, der mit Ausstellungen russischer Kunst in Paris Erfolge gefeiert hatte, die besten Tänzer des ehemals kaiserlichen Balletts um sich und setzt eine erste Vorstellungsserie in Paris an. Wer keinen russischen Namen trägt, erhält einen russischen Künstlernamen. Die „Ballets Russes“ von Sergej Diaghilew sind das Gesprächsthema der Pariser Kunstwelt in einer Stadt, der ihr einst bewundertes Ballett langweilig wird. In diese ästhetische Windstille stürmen die exotischen Russen mit ihren neuen Werken. Ihr berühmtester Komponist heißt Igor Strawinsky, und in seine aufsehenerregend neue Musik fließen volksmusikalische Motive ein. Die Werke sind kürzer, die Plots überschaubar, das Bühnenbild und die Kostüme stammen von jungen avantgardistischen Künstlern oder der charismatischen Coco Chanel. Picasso malt Aushänge für Diaghilew. Werke wie „Petruschka“ oder „Der Feuervogel“ entfalten eine fremdartige, faszinierende, bildhafte Schönheit und überführen die Bewegungen der Danse d’école in eine neue, freiere, komplexere Sprache mit ungewöhnlichen Armbewegungen und temporeicheren, ausgreifenderen Schrittsequenzen. Die Protagonisten stellen Wesen dar, die Metamorphosen durchleben, die Jahrhunderte in Sagen existiert haben und nun eine tänzerisch-mythologische Neudeutung erfahren. Auf der anderen Seite findet das moderne Leben seine tänzerische Repräsentation. Zum ersten Mal springt in „Jeux“ ein Tänzer in Sportkleidung, hier entworfen von Coco Chanel, auf die Bühne – einem Ball hinterher.

Als Signaturstück, als Initiationsballett der Neoklassik gilt George Balanchines „Apollon musagète“ zu Igor Strawinskys gleichnamiger Komposition. Im Sommer 1928, ein Jahr vor Diaghilews Tod, schafft der gerade 24-jährige Tänzer und Choreograf Balanchine dieses Meisterwerk entlang Strawinskys Libretto. Drei Musen, Kalliope, Terpsichore und Polyhymnia, umtanzen den Gott Apoll. Wie unterschiedlich tänzerisch charakterisiert die drei Frauenrollen sind, und mit welcher Phantasie für abwechslungsreiche Konstellationen der Vier Balanchine an dieses Werk ging, löst bis heute Staunen und Bewunderung aus. Die Festlegung, dass Musen mit einem Gott tanzen, schenkt dem Choreografen denkbar große Freiheit, muss er doch nicht auf die klassischen Erzählmuster des Pas de deux eingehen, sondern kann auf einer mehr physischen und zugleich mehr metaphysischen Ebene nachdenken über die Möglichkeiten des Zusammentanzens von Mann und Frau. Diese Freiheit atmet die Choreografie. „Apollo“ zu sehen heißt, eine Ahnung des Erhabenen im Tanz zu bekommen. Man möchte es immer wieder sehen. Es ist athletisch und virtuos, geheimnisvoll, abstrakt und poetisch. Von da an geht Balanchine seinen Weg als Choreograf und führt den klassischen Tanz in der Neuen Welt ein. New York und sein amerikanisches Leben inspirieren ihn genauso wie seine russische Herkunft und die Erinnerung an jene große, lebendige Tradition, die er als Balletteleve zu lieben begann. Nun entkleidete er das Ballett von falscher Sentimentalität und romantischer Schwärmerei. Er machte es jazzy und sexy, groß und überlegen, virtuos und ungeheuer anziehend. Nie vergaß er, was es alles in Petipas Tschaikowsky-Balletten zu entdecken gab. Balanchine wusste, dass seine Werke auf den abstrakten Akten Petipas beruhten, jenen Partien der großen Handlungsballette, in denen die Handlung zurücktrat und nicht weiterentwickelt wurde, sondern in denen es allein um die Choreografie ging, den Tanz. Neben Balanchine stehen andere große Choreografen des zwanzigsten Jahrhunderts, die ihre künstlerischen Positionen neben und mit der Neoklassik entwickelten, faszinierende Werkkörper schufen, die heute den Kanon der Tanzkunst ausmachen. Die Rede ist von Frederick Ashton und Antony Tudor, von Jerome Robbins und Kenneth MacMillan.

Balanchine war ein Teenager, als 1919 Merce Cunningham zur Welt kam, der Choreograf, der sein bedeutendster Antagonist werden sollte und den anderen Weg des Tanzes ebnete, den von der Barfuß-Moderne in die Postmoderne. Selbst ein Student und Company-Mitglied der Modern-Dance-Ikone der ersten Stunde, Martha Graham, verzichtete Cunningham auf jegliche dramatische Entwicklung in seinen Choreografien, kannte keine Solisten und keine Rollen. Martha Graham ließ sich ein in tiefe expressionistische Studien mythologischer Figuren. Cunningham glaubte nicht daran, dass die Kunst Ausdruck des schöpferischen Selbst sein sollte. Er strukturierte und systematisierte die physischen Möglichkeiten tänzerischer Bewegung und setzte Zufallsoperationen und später den Computer ein, um von subjektiven, künstlerischen Entscheidungen wegzukommen. Seine Komponisten, allen voran John Cage, mit dem er von 1942 an die revolutionäre gemeinsame Ästhetik wechselseitiger Freiheit entwickelte, vereinbarten für die Uraufführungen mit ihm nie mehr als die finale Dauer des Stücks, auch was Robert Rauschenberg, in den ersten Jahren der Künstlerische Direktor der Merce Cunningham Dance Company, abends an Trouvaillen als Bühnenbild eines Events auf die Tanzfläche stellte, war ihm ganz überlassen. Es sei grauenvoll gewesen, gab Rauschenberg einmal zufrieden grinsend zur Auskunft, keiner der Beteiligten habe bis zur Premiere gewusst, was der andere vorhabe. Man kann sich das alles nicht großartig genug vorstellen.

Diese große Zeit der Freiheit, Liebe und schöpferischen Erfindungskraft, die auf nackten Füßen und zu den Klängen eines präparierten Klaviers begann, schildert Alla Kovgans stiller, phantastischer, farbgewitterleuchtender 3D-Dokumentarfilm „Cunningham“. Der Film, der aus historischen, häufig schwarzweißen Fotografien und Filmaufnahmen und neu aufgenommenen choreografischen Auszügen der Werke Cunninghams besteht, dokumentiert die Epoche von 1942 bis 1970. Cunningham starb 2009 im Alter von neunzig Jahren und hatte erst zu seinem Geburtstag sein letztes Stück uraufgeführt: „Nearly Ninety“. Hoffentlich setzt Kovgan ihre Arbeit fort und dreht eine Fortsetzung über die Zeit von 1970 bis 2009.

Cunninghams Charisma überträgt sich selbst im Film noch, wenn man ihn tanzen sieht, wenn er spricht, probt oder unterrichtet. Was für eine Revolution entfesselte er mit Cage vor unseren staunenden Augen und ungläubigen Ohren! Dieser Faun sprang mit einem Stuhl auf dem Rücken auf die Bühne, jener keckernde polyrhythmische Krach und technische „Noise“ war die Musik. Was man auch nicht fassen kann, ist die geschliffene Logik des ganzen Unterfangens. Die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers erklärte Cunningham erforschen zu wollen, wozu ihm die klassische Beinarbeit mit ihren Battements und Pirouetten als interessantester Ausgangspunkt erschien, und die er nun mit den modernen Weisen, den Oberkörper zu bewegen, kombinieren wollte: „Arch, Curve, Tilt, and Twist“ – den Rücken rückwärts zu biegen und das Dekolleté dabei nach oben zu ziehen, ihn gerundet nach vorne zu beugen, den Torso seitwärts zu kippen oder zu verschrauben. Die unendlichen Kombinationsmöglichkeiten dieser anatomisch machbaren „Movement Possibilities“ zähmte der Choreograf auch mithilfe der Anwendung von Zufallsprozeduren, ganz im Sinne von Cages Diktum „I have nothing to say and I am saying it“ – Ich habe nichts zu sagen und sage es“. Das 20. Jahrhundert erscheint nicht erst im Rückblick als eine der faszinierendsten, temporeichsten Epochen des Tanzes, als seiner Vervollkommnung als autonome, den anderen Künsten immer wieder vorauseilende ästhetische Praxis.

Wiebke Hüster

 

 

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