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Kulturpolitik

Auf ein Wort mit...

... Markus Dietze, Intendant des Theaters Koblenz

Im Gespräch mit Barbara Haack, Tobias Könemann und Gerrit Wedel

Nach seinem Regiestudium in Hamburg assistierte Markus Dietze zunächst bei Jürgen Flimm in Bayreuth. Er war Produktionsleiter des „Young Directors Project“ bei den Salzburger Festspielen und wurde 2004 Intendant des Theaters der Altmark in Stendal. 2009 wechselte er als Intendant an das Theater Koblenz. Zuletzt wurde sein Vertrag erneut verlängert und geht jetzt bis 2025. Dietze engagiert sich sowohl im Landesverband Mitte des Deutschen Bühnenvereins als auch in Tariffragen beim Deutschen Bühnenverein.

Oper & Tanz: Sie haben einen langen Atem in Koblenz, sind seit 2009 dort Intendant und haben bis 2025 verlängert. Was macht diese langjährige Liebe zwischen Markus Dietze und dem Theater Koblenz aus?

Markus Dietze. Foto: Matthias Baus

Markus Dietze. Foto: Matthias Baus

Markus Dietze: Ich habe hier begonnen, als das Theater intern und künstlerisch in einer schwierigen Situation war. Und komplexe Prozesse brauchen Zeit. Immer wenn bisher der Zeitpunkt gekommen war, an dem wir uns darüber unterhalten mussten, ob es denn weiter geht, fanden der jeweilige Oberbürgermeister, der Stadtrat und ich, dass es noch gute Dinge gemeinsam zu entwickeln gibt. Seien es künstlerische Dinge, sei es eine kommende Kernsanierung. Und jetzt ist es natürlich wie überall so, dass wir durch die Pandemie ungefähr zwei Jahre fast jede Entwicklung nur sehr gebremst durchführen konnten. Ich sehe meine Aufgabe darin, ein Theater so zu leiten, dass es auch in 30 Jahren noch steht und gehöre nicht unbedingt zu denen, die die eigene persönliche Karriere in den Vordergrund stellen. Solange es noch Dinge gibt, von denen ich denke, dass wir damit hier noch nicht fertig sind, solange ist es sinnvoll zu bleiben – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Natürlich gilt es auch, allseitigen Ermüdungserscheinungen vorzubeugen. Aber ich merke hier, was sich für tolle künstlerische Dinge bei den Bühnenkünstlerinnen und -künstlern entwickeln; von daher ist es nach wie vor ein lohnendes Unterfangen.

O&T: Sie haben eine besondere Struktur in der Zusammenarbeit mit dem Orchester. Wie genau sieht diese Struktur aus?

Dietze: Wir haben die Besonderheit, dass bei uns das Staatsorchester Rheinische Philharmonie in Rechtsträgerschaft des Landes Rheinland-Pfalz steht und einen Chefdirigenten hat, der mit uns nichts zu tun hat. Wir haben einen eigenen Chefdirigenten und befinden uns in Rechtsträgerschaft der Stadt Koblenz.

O&T: Das Orchester bespielt aber auch das Theater?

Dietze: Genau. Es gibt einen Kooperationsvertrag zwischen der Stadt Koblenz und dem Land Rheinland-Pfalz, der relativ klar regelt, dass das Orchester sehr viele Dienste bei uns ableisten muss, im Grunde nicht weniger als im Konzertbetrieb. Wir haben im Prinzip ein normales Mehrspartenhaus, in dem der Bereich des Orchesters rechtlich selbstständig ist. Die Theaterleitung hat gegenüber dem einzelnen Orchestermusiker kein arbeitgeberseitiges Weisungsrecht. Das kann sehr angenehm sein.

O&T: Sie haben von künstlerischen Herausforderungen gesprochen, die noch anstehen. Welche sind das im Moment?

Blick in den Zuschauerraum. Foto: Matthias Baus

Blick in den Zuschauerraum. Foto: Matthias Baus

Dietze: Meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter und auch ich persönlich haben ein großes Faible für zeitgenössisches Musiktheater. Wir bringen beispielsweise ziemlich regelmäßig und in einem Umfang, der für ein Haus unserer Größe eher nicht üblich ist, Auftragskompositionen im Bereich Musiktheater. Das sind immer Projekte, die einen langen Vorlauf haben. Wir haben eine sehr enge und fortdauernde Zusammenarbeit mit dem schauspielerischen Studiengang „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin. Das hat sich hier etabliert, auch unser Publikum weiß das sehr zu schätzen. Als wir hier anfingen, haben wir in unserer zweiten Spielzeit „Drei Schwestern“ von Peter Eötvös gemacht, da ging es noch rund im Zuschauerraum. Aber das hat sich geändert, auch bei zeitgenössischem Musikprogramm reagiert das Publikum äußerst aufgeschlossen. Das hat etwas damit zu tun, dass Inhalte, die eine besondere Vermittlung brauchen, es leichter haben, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer Menschen identifizieren können, die sie kennen, Künstlerinnen und Künstler, mit denen sie ein positives Erlebnis verbinden.

O&T: Inwieweit schaffen Sie es mit solchen Produktionen, auch ein überregionales Publikum anzuziehen?

Dietze: Vor Corona haben wir das geschafft, gerade bei den besonderen Musiktheaterproduktionen. Als wir zum Beispiel „Doctor Atomic“ von John Adams gemacht haben, haben wir festgestellt, dass wir ein sehr regionales Publikum haben; in der Mitteldistanz wird es eher dünn, ab der „Long-Distance“ aber wieder interessant. Es ist nicht ohne Stolz zu vermelden, dass „Doctor Atomic“ zum Beispiel auch in der New York Times rezensiert wurde. Meiner Eitelkeit als Regisseur tut das natürlich gut, aber wir machen Theater für die Menschen hier und für einen regionalen Einzugsbereich.

O&T: Nutzen Sie auch neue Formate der Musikvermittlung?

Interaktives Puppentheater: „VRona. Ein Romeo-und-Julia-Setting.“ Foto: Arek Glebocki

Interaktives Puppentheater: „VRona. Ein Romeo-und-Julia-Setting.“ Foto: Arek Glebocki

Dietze: Die Künstlerinnen und Künstler müssen auch bereit sein, über die Werke zu sprechen. Wir haben zum Beispiel beste Erfahrungen damit gemacht, dass bei zeitgenössischer Musik die Dirigenten der Produktion Werkeinführungen anbieten. Da hat uns die Pandemie noch einen Sprung nach vorne gebracht, wir haben in Coronazeiten ein Format erfunden, bei dem wir uns mit Zuschauerinnen und Zuschauern einmal in der Woche im Zoom treffen. Das hat unglaublich eingeschlagen. Wir haben außerdem eine gut aufgestellte Abteilung Theaterpädagogik. Theaterpädagogik heißt, Vermittlung für die gesamte Bandbreite unseres Publikums anzubieten, nicht nur für Schülerinnen und Schüler.

O&T: Was sind heute aus Ihrer Sicht die wichtigen Aufgaben eines Stadttheaters? Sie haben von Theaterpädagogik als Heranführung an etwas Neues gesprochen. Wie beschreiben Sie die Positionierung des Theaters als Institution in einer Stadt?

Dietze: Es muss in einer städtischen Gesellschaft – ganz physikalisch-bautechnisch gesprochen – einen Ort geben, an dem sich Menschen versammeln können und gemeinsam in einem Raum ein ästhetisches Erlebnis haben. Ein Phänomen zeichnet das Theater aus, das es sonst nirgendwo gibt: Eine Anzahl von Menschen befindet sich zusammen in einem Raum mit Künstlerinnen und Künstlern. Für die Zeit dieser Anwesenheit stoppt deren andere Zeiterfahrung. Man ist gemeinsam für ein paar Stunden in einer anderen Welt und erfährt dort eine Unmittelbarkeit, eine Nicht-Wiederholbarkeit. Da ist das Theater einmalig und wesentlich besser als alle digitalen Medien. In seiner spezifischen Qualität ist dies auch ein demokratisches Erlebnis: In dem Moment, in dem das Theater losgeht, spielt die Frage, wo die Menschen herkommen, was sie sind und welchen Background sie haben, überhaupt keine Rolle mehr.

O&T: Sie sprechen von einem demokratischen Prozess innerhalb des Theaters. Würden Sie sagen, dass das Theater auch eine politische Funktion außerhalb des Theaters hat?

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“: eine Miniserie aus 5 Folgen in Zusammenarbeit mit dem schauspielerischen Studiengang „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin. Das Projekt wurde im Mai 2021 filmisch für den Online-Spielplan auf stream.theater-koblenz.de umgesetzt. Foto: Arek Glebocki

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“: eine Miniserie aus 5 Folgen in Zusammenarbeit mit dem schauspielerischen Studiengang „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin. Das Projekt wurde im Mai 2021 filmisch für den Online-Spielplan auf stream.theater-koblenz.de umgesetzt. Foto: Arek Glebocki

Dietze: Ganz bestimmt, allein dadurch, dass ein Gemeinwesen sagt: Es ist richtig und gut, dass – im Fall von Koblenz – jedes Jahr 20 Millionen Euro auf etwas verwendet werden, das einerseits demokratisch legitimiert ist, andererseits völlig frei in dem, was künstlerisch passiert. Diese Art der Freiheit ist das, was Feinde unserer demokratischen Werteordnung natürlich furchtbar finden, weil es nicht kontrollierbar ist und einen sehr weitreichenden Einfluss auf die Befindlichkeit einer Gesellschaft hat.

Natürlich erreichen wir nicht alle, aber wir erreichen doch eine große Anzahl von Menschen. Es wäre ein Kurzschlussfehler, die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz dadurch in Frage zu stellen, dass man nicht alle erreicht. Das ist völlig undemokratisch. Es gibt ja auch noch andere Akteure in einer Zivilgesellschaft. Hier im Mittelrheintal kann man das am Phänomen Karneval sehr schön beobachten. Ich bin der festen Überzeugung, dass Karnevalsvereine eine extrem sinnvolle Funktion für unsere Gesellschaft haben. Mich erreichen die aber überhaupt nicht. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass sie sich so verändern müssen, dass sie auch mich erreichen. Alle zivilgesellschaftlichen Errungenschaften erreichen bestimmte Teile einer Gesellschaft; sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der es eine Institution gibt, die alle gleichmäßig erreicht, ist eher ein diktatorisches Prinzip.

O&T: Wäre für Sie dann nicht eine logische Konsequenz so etwas wie ein Bürgertheater, um auch eine Zweibahnstraße mit künstlerischen Mitteln herzustellen?

Dietze: Ich halte das für realistisch, wenn auch für hochgradig diffizil durchführbar. Wir haben kürzlich eine hochinteraktive Puppentheaterproduktion mit VR-Anteilen gemacht. Es ist allerdings nicht jedermanns Interesse, bei einem Theaterbesuch die Einbahnstraße aufzuheben.

Aber die Zweibahnstraße muss man auf jeden Fall hinzunehmen. Bei der letzten Uraufführung im Schauspiel haben wir angefangen, eine andere Art von Publikumsgesprächen zu führen: nicht angesagt, sondern die Zuschauer überraschend. Das Ensemble bleibt einfach da, und wir sagen: Wer jetzt noch Lust hat, kann im Zuschauerraum bleiben und mit uns sprechen. Solche Formate sind es, die mich vermehrt interessieren und die wir vermehrt brauchen.

Als Regisseur inszeniere ich im Schauspiel keine toten Autoren mehr. Ich werde als Intendant nicht darum herumkommen, auch tote Autoren und Autorinnen zu spielen, aber ich möchte mich nicht mehr mit Texten auseinandersetzen, bei denen ich fünf Umdrehungen machen muss, um in der Lebensrealität der Menschen anzukommen, die da unten sitzen. Das ist auch eine Art der Aufhebung dieser Einbahnstraße.

O&T: Theater dient ja auch der Unterhaltung und der Zerstreuung. Was Sie beschreiben, ist nachvollziehbar, aber sicherlich kein allgemeines Rezept. Wie sehen Sie das Theater in der Mischung zwischen aktuellem Diskurs und Unterhaltung?

Im Stream: „Nicht mit Dir und nicht ohne Dich“, Ballett von Steffen Fuchs. Foto: Matthias Baus

Im Stream: „Nicht mit Dir und nicht ohne Dich“, Ballett von Steffen Fuchs. Foto: Matthias Baus

Dietze: Wenn ein Werk in sich eine gute Geschichte hat, wenn die Story funktioniert, dann kann es wahrscheinlich auch weiterhin so sein, dass ich mir im Sinne einer lustvollen Bereicherung eine Geschichte „von früher“ anschaue, die mir etwas über das Heute sagt. Größte Bedenken habe ich, wenn Stücke aus der Vergangenheit nicht storybasiert sind, sondern thesenbasiert. Da habe ich Sorge, dass diese Stücke mit einer so radikal veränderten Gesellschaft, wie wir sie im Moment vorfinden, nicht mehr funktionieren. Und natürlich sehe ich das durch verschiedene Brillen des Regisseurs und des Intendanten. Es gibt Werke, die mittelmäßig sein können und trotzdem immer ausverkauft. Für mich als Intendant ist das schön. Eine meiner Aufgaben ist, zusammen mit allen, die mit mir an einem Spielplan arbeiten, zu fragen, wie wir zwischen diesen Aspekten ein interessantes Spannungsfeld finden.

O&T: Wäre es im Musiktheater auch eine Option, nur noch Zeitgenössisches auf den Spielplan zu setzen?

Dietze: Nein, da gibt es ja einen wahrnehmungstechnischen Vorteil. Es gibt immer den Inhalt des Werks und die Musik. Beim Musiktheater hat man diese Differenzerfahrung und deshalb – weil Musik so unmittelbar wirkt – größere Chancen, auch aus älteren Werken für heute noch etwas herauszuziehen. Dennoch gebe ich unumwunden zu – aber das ist dann wieder meine andere Rolle – dass mir als Regisseur zeitgenössisches Musik-
theater mehr sagt als Werke von früher.

O&T: Sie waren vor Koblenz in Stendal. Gibt es Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Koblenz und Stendal in der Funktion des Theaters oder auch in der Publikumsrezeption?

Dietze: Zu einem Ost-West-Vergleich würde ich mich nicht hinreißen lassen wollen. Aber zwischen Koblenz und Stendal gibt es zwei ganz wesentliche Unterschiede. In Stendal ist es ein Landestheater, das einen anderen politischen Auftrag hat. Das Gastspielgewerbe war gerade innerhalb von Sachsen-Anhalt immer ein entscheidender Faktor. Stendal als Stadt, so schön es da ist mit seinen 30.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, ist keine Stadt für ein eigenes Stadttheater. Das Land Sachsen-Anhalt braucht aber unbedingt ein Landestheater in Stendal. Die Altmark, der nördliche Teil von Sachsen-Anhalt, ist größer als das Saarland. Eine solche Region ohne Theaterangebot wäre furchtbar. Da produziert man natürlich ganz andere Formate.

O&T: Corona bedeutet möglicherweise auch in einer Stadt wie Koblenz einen Einschnitt. Haben Sie Befürchtungen, dass das Theater auch bei Ihnen in Frage gestellt wird angesichts der knappen Kassen, die auf die Kommunen zukommen?

Dietze: Die Debatten gibt es schon immer, aber es gibt hier eine hohe Verbundenheit mit dem Theater. Das ist keine Leistung der jeweiligen Theaterleitung, diese Verbundenheit besteht unabhängig von uns. Von daher laufen die Debatten im politischen Raum ganz anders ab. Das heißt allerdings nicht, dass sie für das Theater als System nicht genauso gefährdend sein könnten wie anderswo. Ich würde aber sagen, dass es für das nächste Haushaltsjahr kein Problem gibt.

O&T: Sie haben die Sanierung angesprochen, die sicher auch Geld kostet. Wie ist der Stand der Dinge?

Dietze: Ein überwiegender Teil wird voraussichtlich vom Land getragen und gefördert. Wir haben den Vorteil, dass es keine Generalsanierung ist, sondern eine Kernsanierung des Bühnenhauses, insbesondere mit Schwerpunkt auf der Bühnentechnik. Anders als an anderen Häusern wäre die Betriebssicherheit, insbesondere der Brandschutz, nicht gefährdet, wenn wir es sein ließen. Es wäre nur so, dass dann in 20 Jahren nicht 20 Millionen, sondern 70 oder 80 Millionen fällig wären, das hat die politische Entscheidungsebene schon sehr genau verstanden. Köln ist ja nicht weit...
Kostensteigerungen im Bereich Bau sind natürlich immer denkbar, aber wir tun unser Bestes. Wir sind wie gesagt ein unselbständiges Amt und haben es in so einem Verbund manchmal leichter, als es eine GmbH hätte. Gerade auch in der Pandemie hat uns diese Rechtsform, die manchmal etwas bürokratisch und behindernd wird, sehr geholfen. Es gab mal eine Zeit, in der man gesagt hat, die Theater müssten alle raus aus den furchtbaren Ämterstrukturen in den Städten, müssten mindestens ein Eigenbetrieb sein, am besten eine GmbH. Die letzten zwei Jahre haben deutlich gezeigt, wie froh wir in Koblenz sein dürfen, in dieser Struktur eingebunden zu sein.

O&T: Sie haben ein großes Video-on-demand-Angebot. Wie sehen Sie das in Ergänzung zum Live-Erlebnis? Was hat das für eine Bedeutung, sowohl künstlerisch, als auch, was die Präsenz des Theaters in der Gesellschaft angeht – und letzten Endes auch finanziell?

Dietze: Auslöser war hier tatsächlich die Pandemie. Ich bin dabei ein leidenschaftlicher Verfechter von entgeltlichen Streaming-Angeboten, alles andere funktioniert auf Dauer nicht. Wir haben auch mal einen ersten Akt „Walküre“ mit zwei Klavieren ohne Entgelt gestreamt. Da hatten wir dann sensationelle Zahlen, zirka 40.000 bis 50.000 Zuschauer/-innen. Nur kam da kein Euro in die Kasse. Wir haben dann ein eigenes Portal eingerichtet, das der Freundeskreis finanziert hat. In der ersten Lockdown-Situation hat das sensationell funktioniert. Sobald es wieder Live-Theater gab, interessierte das keinen mehr. Wenn man kein Angebot hat wie „digital concert hall“, auf Weltniveau mit Weltstars, die jeder kennt, dann ist das jenseits einer solchen Sondersituation schwierig. Vielleicht sollten wir sagen: Gottseidank nehmen Menschen sehr viel auf sich, um ins Theater zu gehen.

O&T: Versuchen Sie auch, das Theatererlebnis auf der Bühne durch eine Art Fernsehkammerspiel zu ersetzen, oder legen Sie Wert darauf, dass es ein Theatererlebnis bleibt?

Dietze: Wir machen tatsächlich beides. Wir haben auf dem Streaming-Portal Angebote gehabt, die abgefilmtes Theater sind, aber auch Produktionen, die speziell filmisch gedacht sind, zum Beispiel das letzte Projekt, das wir mit dem Studiengang „Szenisches Schreiben“ gemacht haben. Das ist komplett filmisch gedacht und überhaupt nicht mehr „Theater“.

O&T: Sie haben beim Puppentheater eine VR-lastige Produktion erwähnt. Ist dieser Schritt für Sie auch eine Option? Augsburg investiert zum Beispiel sehr viel auf diesem Gebiet und hat ein ähnliches Publikum wie in Koblenz.

Dietze: Wenn uns an der VR etwas interessiert, dann ist es Interaktion. Ich finde es sehr bewundernswert, was die Kolleginnen und Kollegen in Augsburg machen. Wenn man neue Medien nutzt, muss man ja fragen: Wie bilde ich nicht nur das, was ich ohnehin schon mache, in einem anderen Medium ab? Wie erreiche ich einen Mehrwert? Im Puppentheater haben zwei Puppenspielerinnen mit den Zuschauern tatsächlich im virtuellen Raum interagiert. Das ist eine neue Form von Theater, die wir auch weiterverfolgen werden. Das nächste Projekt in diesem Bereich werden wir im Tanz machen.

O&T: Sie engagieren sich sehr beim Deutschen Bühnenverein. Was treibt Sie an?

Dietze: Neugier. Ich habe für die organisatorischen Rahmenbedingungen unserer Arbeit großes Interesse. Das ist sehr komplex, und das Eingebundensein ins öffentliche Recht ist herausfordernd. Ich interessiere mich sehr für Arbeitsbedingungen auch im arbeitsrechtlichen Rahmen und für die Frage, was da für die künstlerische Arbeit sinnvoll ist und was nicht.

Jede Intendantin, jeder Intendant, die oder der die einschlägigen Rechtsnormen und Tarifverträge gut kennt, kann dem Theater als Ganzes nur gut tun.

O&T: Das eine ist das Wissen um die Rechtsnormen. Das andere ist die Frage, wie man mit diesem Wissen umgeht. Da entscheiden Sie sich oft, in bestimmten Punkten potenzielle Möglichkeiten nicht komplett auszuschöpfen. Sie sagen: Es gibt Dinge, die im NV Bühne möglich sind, von denen ich aber absichtlich keinen Gebrauch mache, weil ich nicht glaube, dass sie dem Ziel, das ich in meinem Theater erreichen möchte, gerecht werden.

Dietze: Ich bringe da mal eine Metapher: Ich bin auf einer Straße unterwegs, auf der rechten Spur. Rechts kommt eine weiße Markierung, dann kommt die Leitplanke. Natürlich bin ich auch nach wie vor auf der Straße unterwegs, wenn ich permanent an der Leitplanke entlangramme. Gut für das Auto ist es nicht, für mich auch nicht und für alle anderen auch nicht. Anderseits muss ich selbstverständlich auch ab und zu mal jemanden überholen können. Und auch für dieses „Überholen“ gibt es dann Regelungen und Absprachen.

So ist das mit jeder Rechtsnorm in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung: Die Norm ist erst einmal viel weiter als das, was ich regelmäßig brauche, weil es Einzelfälle geben kann, in denen wir gemeinsam diesen Spielraum benötigen. Wenn eine Rechtsnorm nicht weiter ist als ein sinnvoller Korridor, dann ist sie zu eng. Dann wird es immer wieder Fälle geben, die niemand bedacht hat und die dann für unnötige Konflikte sorgen.

In unserem Gesellschaftssystem wird der einzelne Mensch nicht durch Regeln von seiner Weisheit entbunden. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, wo, weil es eine signifikante Anzahl von Deppen gibt, die anderen nicht mehr das Richtige tun können oder eingeschränkt sind in ihren sinnvollen Möglichkeiten.

O&T: Der NV Bühne hat ja im Tarifrecht der Bundesrepublik Deutschland eine sehr einmalige Stellung, im Verhältnis sowohl zum Öffentlichen Dienst als auch zur Privatwirtschaft, auch im Vergleich mit der Theaterlandschaft weltweit, und ermöglicht etwas, das es ansonsten nur ansatzweise gibt. Wo sehen Sie die besonderen Stärken und Schwächen des existierenden NV Bühne?

Dietze: Ich halte den NV Bühne wirklich für ein sehr gutes Werk. Vor allem, weil er – Sie sprachen den weltweiten Vergleich an – innerhalb künstlerischer Freiheit ein sehr weitreichendes Maß sozialer Absicherung bietet. Ich bin außerdem immer dafür, dass wir in den Theatern im Gespräch miteinander über unsere Arbeitsbedingungen sind und den Rahmen, den der NV Bühne vorgibt, diskutierend gemeinsam ausschreiten. Dafür gibt es ja Menschen, die auf Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerseite gewählt sind.

O&T: Es stimmt: Die Leitplanken im NV Bühne sind weit. Aus dem Druck heraus, immer mehr zu produzieren, und bei immer schwächeren Personaletats gibt es aber die Tendenz, diese Leitplanken immer weiter auszuloten. Von Seiten derer, die unter diesen Bedingungen arbeiten, wird dies dann als eine überzogene Belastung empfunden. Das wiederum führt zur Forderung, die Leitplanken näher an die Fahrbahn zu setzen. Wenn die Ausnahme zur Regel wird, ist es ein Problem, dem wir uns auch im NV Bühne irgendwie stellen müssen.

Dietze: Es gibt zwei Dinge, die aus meiner Sicht nichts miteinander zu tun haben, die aber seitens der Gewerkschaften vermischt werden: Das eine ist die Frage des Umgangs mit dem Tarifrecht, das andere ist die Frage, welche Anforderungen wir an die strategische Leitung eines solch komplexen Unternehmens wie des Theaters stellen. Ich akzeptiere nur sehr begrenzt, dass in einem öffentlich-rechtlichen Kontext vermeintlicher Druck, der auf mir als strategischer Leitung lastet, in einem Automatismus dazu führt, dass die Mitarbeitenden Situationen ausgesetzt werden, die nicht richtig sind. Da liegt eine strategische Führungsschwäche vor und nicht ein Fehler im Tarifvertrag. Es muss einen sehr hohen professionellen Anspruch an Menschen geben, die Verantwortung für so viele Leute tragen.

Zum Glück gibt es in Koblenz quasi keine Debatten zum Thema Tariferhöhung. Aber jedes Jahr fragen die Mitglieder einer bestimmten Partei: Warum werden die Personalkosten im Theater jedes Jahr höher? Und jedes Mal sage ich denen: Weil es Tarifverträge gibt, die richtigerweise bei einer allgemeinen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld vorsehen. Sie werden doch nicht erwarten, dass die Mitarbeiter*innen des Theaters im Vergleich zu Mitarbeiter*innen in anderen Ämtern der Stadt Arbeitnehmer*innen zweiter Klasse sind.

Ich denke, es ist meine Aufgabe als strategische Leitung, mit dem Druck von außen umzugehen und den nicht bei erstbester Gelegenheit nach innen weiterzugeben. Das ist meine Jobbeschreibung.

O&T: Wenn Sie sagen, der Tarifvertrag ist nicht das Mittel, diesen Zustand zu verbessern: Sehen Sie andere Mittel, wie man da steuern könnte?

Dietze: Entsprechend der anspruchsvollen strategischen Führungsaufgabe der Theaterleitung sollte die Auswahlprozedur hierfür sein. Die sollte sich stärker orientieren an dem, was in anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen es um so verantwortungsvolle Aufgaben geht, üblich ist. Manche Rechtsträger beschäftigen sich exakt einmal alle fünf Jahre mit der Frage: Wie sollte meine Theaterleitung funktionieren? Das ist sicherlich zu wenig.
Es ist wichtig, immer wieder zu betonen, dass am Theater der Kernbereich der Arbeit ganz anders läuft als sonst im Öffentlichen Dienst oder in der Berufswelt und dass es deshalb spezifische Regelungen braucht. Aber genauso wichtig ist es zu sagen, dass ein anderer wesentlicher Teil unserer Arbeit genauso normal ist wie jede andere Arbeit auch. Und beide Bereiche müssen professionell funktionieren und tarifrechtlich gut geregelt sein.

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