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Das vergessene Wunderkind

Der verkannte Opernkomponist Camille Saint-Saëns

Jeder kennt die Orient-Oper „Samson et Dalila“, darüber hinaus aber ist Camille Saint-Saëns ein weithin unbekannter Opernkomponist, bis heute unterschätzt. Ein Jahrhundert nach seinem Tod ist Saint-Saëns noch immer und mehr denn je der „berühmte Unbekannte“, dessen Werke zum Teil weltberühmt, überwiegend aber in Vergessenheit geraten sind.

Zweifellos muss Camille Saint-Saëns zu den Wunderkindern der Musikgeschichte gezählt werden. Er wurde am 9. Oktober 1835 in Paris geboren und wuchs als Einzelkind in der Obhut seiner Mutter Clémence und seiner Großtante Charlotte Masson (einer ausgebildeten Pianistin) auf, da sein Vater bereits wenige Monate nach seiner Geburt starb. Schon früh zeigte sich die universelle, nicht nur musikalische Begabung des Jungen. Mit sechs Jahren spielte er bereits beachtlich Klavier, komponierte Lieder und kleine Klavierstücke. Mit elf Jahren gab er sein erstes Konzert in der Salle Pleyel in Paris und wurde dort als „neuer Mozart“ gefeiert. Zwei Jahre später wurde er in das Pariser Konservatorium aufgenommen. Dort studierte er bei Camille Stamaty Klavier, bei François Benoist Orgel und bei Fromental Halévy Komposition.

Saint-Saëns, dessen Todestag sich am 16. Dezember 2021 zum 100. Male jährte, gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten des französischen Musiklebens, als Komponist, Professor und Organist. Neben Berlioz galt er als bedeutendster Komponist Frankreichs. 20 Jahre lang wirkte er an der Église de la Madeleine, die mit ihrer Cavaillé-Coll-Orgel zu den bedeutendsten Kirchen von Paris zählt. Liszt nannte ihn den „besten Organisten der Welt“. Doch sein musikalisches Schaffen war nahezu ausschließlich auf Kammermusik, Sinfonik und Oper gerichtet. Die enorme Vielseitigkeit seiner Kompositionen offenbart eine Fähigkeit, die musikalische Inspiration in unterschiedliche Richtungen zu lenken und die üblichen musikalischen Pfade zu verlassen. Ein paar Jahre leitete Saint-Saëns die Klavierklasse an der renommierten École Niedermeyer. Er war zeitlebens ein Klavier-Virtuose. Als solcher, aber auch als Dirigent ging Saint-Saëns auf Reisen nach Südostasien, Süd- und Nordamerika sowie Nordafrika, das er besonders liebte, und erntete Erfolge in der ganzen Welt, wenn auch nicht unbedingt und von Anfang an in seiner Heimat Frankreich. Er hatte viele Schüler, unter ihnen Gabriel Fauré, Eugène Gigout und André Messager. Seine Anerkennung kam spät. Doch seit den 1880er-Jahren galt er als größter Musiker des Landes, wurde 1881 in die Akademie der schönen Künste gewählt und 1884 zum Offizier der Ehrenlegion, deren Großkreuz er 1913 erhielt. Die letzten Jahre seines erfüllten und langen Lebens verbrachte er in Algier. Im hohen Alter von 86 Jahren verstarb der Hochdekorierte und Hochgeehrte ebendort 1921. Er wurde nach Paris überführt und dort auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.

„Samson et Dalila“ an der Staatsoper Unter den Linden mit Brandon Jovanovich als Samson und dem Staatsopernchor (Premiere: 24. November 2019). Foto: Matthias Baus

„Samson et Dalila“ an der Staatsoper Unter den Linden mit Brandon Jovanovich als Samson und dem Staatsopernchor (Premiere: 24. November 2019). Foto: Matthias Baus

Saint-Saëns hinterließ 300 Werke in nahezu allen Gattungen. Etwa die Hälfte des Œuvres entfällt auf nahezu gänzlich vergessene Vokalwerke wie Chöre, Kantaten, Klavierlieder und Opern. Er stellte sich mit ihnen gegen die Trends seiner Zeit, war ihr voraus, was bis heute nicht angemessen gewürdigt wird. Er war ein unzeitgemäßer Romantiker, der sich an klassischen Formen der Musik orientierte. Er setzte sich für eine progressive französische Sinfonik ein und zeigte eine bemerkenswerte stilistische Vielfalt und Variabilität. Immer wieder wagte er Formexperimente, befleißigte sich einer avancierten Harmonik und hatte ein ausgesprochenes Faible für Couleur locale, Folklorismus und Exotismus.

Er war mit Gabriel Fauré und Franz Liszt (der in Weimar die Oper „Samson et Dalila“ uraufführte) eng befreundet, kannte Wagner persönlich, schätzte ihn sehr, aber bekämpfte die starken Einflüsse des Wagnérisme. Nicht zuletzt die Gründung der „Société nationale de musique“ brachte ihm den Vorwurf des Nationalismus ein, obwohl es ihm doch nur um ein Aufführungsforum für zeitgenössische französische Musik ging.

Nach 1900 geriet seine Musik angesichts der Avantgarde eines Debussy, Ravel oder Strawinsky zusehends ins Abseits. Doch das Bonmot, „als Revolutionär begonnen, als Reaktionär geendet“, greift zu kurz. Saint-Saëns war weder das eine noch das andere. Seine Unabhängigkeit belegen auch seine zahlreichen Artikel und Essays, in denen er sich immer wieder für verkannte Werke und Komponisten oder gegen übertriebene Moden aussprach.

Neben zahlreichen Konzerten, Symphonien, Kammermusik, Programmmusik, Kirchen- und Ballettmusiken, Liedern und sogar einer Filmmusik hat er 13 Opern komponiert. Seltsamerweise ist Saint-Saëns‘ Werk editorisch kaum erschlossen und viele seine Stücke sind heute unbekannt oder in unseren Zeiten unaufgeführt, darunter eben auch seine Opern. Schon Julius Kapp hat Saint-Saëns in seinem Buch „Die Oper der Gegenwart“ (Berlin 1922) unter die „Eklektiker“ der Wagner-Nachfolge eingeordnet. Bei dieser Bewertung ist es im Wesentlichen bis heute geblieben.

Saint-Saëns‘ Bühnenwerke verfolgen zwei spezifisch französische Ausprägungen, zum einen die Tradition der Opéra comique („La Princesse jaune“, „Phryné“), zum anderen die Verbindung von Grand Opéra mit dem zeitgenössischen Drame lyrique auf der Grundlage historischer („Etienne Marcel“, „Henri VIII“, „Ascanio“, „Les Barbares“) oder antik-mythologischer Stoffe („Proserpine“, „Héléne“, „Déjanire“).

Er wollte nicht das Wagnersche Musikdrama nachahmen, sondern einen eigenen Weg einschlagen mit transparenter Instrumentation, Wahrung des Nummern-Prinzips und ausgeprägtem, auch historisierendem musikalischen Lokalkolorit. Erstaunlich ist sein Streben nach ständiger Erneuerung von Form und Sprache. Eine Sonderstellung nimmt „Samson et Dalila“ ein. Es ist das einzige Bühnenwerk, das sich im Repertoire der Opernspielpläne bis heute halten konnte.

Doch auch seine anderen Opern wären es wert, auf ihre heutige Bühnentauglichkeit hin überprüft zu werden. Es gibt noch Einiges zu entdecken. Die meisten Theater wagen es nicht, Saint-Saëns-Opern auszugraben. Umso erfreulicher, dass der Palazzetto Bru Zane einen Vorstoß unternimmt. Dieses „Centre de musique romantique française“ ist eine Organisation, die sich der Förderung der Musik vergessener beziehungsweise weniger bekannter französischer Komponisten aus der Zeit zwischen etwa 1780 und 1920 verschrieben hat. Sein Einsatz für Saint-Saëns verdient Aufmerksamkeit und Zuspruch.

Immerhin hat Palazzetto Bru Zane neben Liedern und Orchesterwerken die Opern „Phryné“, „La Princesse jaune“, „Les Barbares“, „Proserpine“ und „Le Timbre d’argent“ eingespielt. Sie setzt sich auch für szenische Aufführungen dieser Opern ein und macht neugierig auf einen verkannten, ungewöhnlichen Opernkomponisten und Weltenbummler. Es ist zu wünschen, dass Impulse von den genannten Aktivitäten ausgehen.

Dieter David Scholz

 

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