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Portrait

Atlantis und Arkadien

Zum 200. Todestag des Dichter-Musiker-Malers Ernst Theodor Amadeus Hoffmann

Das Phänomen der Doppel- oder- Mehrfachbegabung in der Kunst begegnet häufig Misstrauen, wird als zersplitterte Existenz schwankender Talente wahrgenommen. Hector Berlioz, brillanter Rezensent und komponierender Exzentriker, muss sich mühsam im eigenen Land behaupten. Richard Wag-ner fühlt sich auch zum Dichter berufen, gilt aber der Nachwelt hauptsächlich als genialer Musikdramatiker. Bei Robert Schumann reicht die literarische Tätigkeit wohl nicht an die funkelnde Präsenz einer „Kreisleriana“ heran. Der Dichter, Verdi-Librettist und Komponist des „Mefistofele“ Arrigo Boito wiederum hat ein unglückliches Fragment-Verhältnis zur Musik. Das gemeinsame Idol aller vier Doppelbegabten bildet nicht zufällig Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, der mit Poesie, Musik und Malerei auch noch den Beruf des Juristen verbindet. 1776 in Königsberg geboren, folgt er mit dem Studium der Rechte widerstrebend der väterlichen Tradition. Trotz glänzender Examina und erfolgreicher Amtsführung fühlt sich der spätere Berliner Kammergerichtsrat schon als Knabe ganz der „edlen Musica ergeben“ und klimpert Tag und Nacht auf seines „Onkels altem, knarrenden, schwirrenden Flügel“. In der Erzählung „Die Fermate“ schildert Hoffmann die beschränkte Ausbildung in seiner Vaterstadt. Das reale Defizit weckt in ihm den überschwänglichen Musikenthusiasten, der künftig die geistigen Tiefen Bachs, Glucks und des Wiener Dreigestirns Haydn-Mozart-Beethoven auslotet. Seine glühenden Fantasien liegen dabei mit dem braven Kontrapunktisten in seltsamem Widerstreit: Dämonie und Skurrilität der Poesie gegen Formalismus und Nachahmung in der Tonkunst. Immerhin gelingen Hoffmann in seiner polnischen Amtsperiode 1802 bis 1806 neben Singspielen und Schauspielmusiken stilistisch ausgereifte Werke wie die vier Klaviersonaten, das Harfenquintett in c-Moll und die Es-Dur-Sinfonie.

Eher unbeabsichtigt beginnt seine literarische Laufbahn mit der Novelle „Ritter Gluck“. Zu dieser Zeit Musikdirektor in Bamberg, aber in verzweifelten Umständen, schickt er seine Erzählung an den Redakteur der Leipziger „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ Johann Friedrich Rochlitz mit dem Plan, neben dem ersehnten Musikerdasein das Metier des Musikschriftstellers auszuüben. In diesem glanzvollen Debüt finden sich nahezu alle Motive des romantischen Dichters, Komponisten, religiösen Musikfantasten sowie Synästhetikers Hoffmann vereinigt:
die Vorstellung, dass die Musik zwar im trivialen Hier und jetzt spielt, aber recht eigentlich in einem fernen Traumreich beheimatet ist, vom Dichter immer wieder beschworen als Atlantis, Arkadien und Dschinnistan;
die damit verbundene Ansicht, dass die zwischen den beiden Welten taumelnden Künstler als tobsüchtige Kapellmeister, gespenstische Revenants, abgeschiedene Einsiedler und verrückte Sonderlinge ihr Dasein fristen müssen.

„Es gab für Hoffmann, der sich nicht eins in sich fühlte, in Wirklichkeit zwei Welten, und diese Doppelgängerei, diese Bürgerschaft in zwei ganz verschiedenen Reichen, bildet den poetisch-philosophischen Grundgedanken seiner Schriften“, schreibt Ricarda Huch. Mit der Figur des Ritter Gluck werden nach und nach die exzentrischen Künstler wie Johannes Kreisler, Theodor, Anselmus, Balthasar, Nathanael, Serapion, Rat Krespel und Cardillac geboren. Diese Individuen irren und stolpern durch eine ihnen übel gesonnene dissonante Welt, doch leben sie mit den großen Meistern auf Du und Du, kommunizieren unmittelbar „vom Geist zum Geiste“, karikieren wie der Hoffmannsche Gluck ein musikdilettierendes Berlin und steigern sich hinein in die visionäre Verklärung des Dreiklangs hin zu göttlicher Trinität. Eine Vision, die immerhin historisch bis zur mythischen Geburt des Es-Dur-Dreiklangs in Wagners „Rheingold“-Vorspiel führt. Hoffmann hat sie selbst in seiner Oper „Aurora“ musikalisch erahnt und damit wie in anderer Hinsicht dem Wagnerschen Musiktheater den Weg geebnet.

Der zweite Abgott heißt Mozart und sein „Don Giovanni“. Die Novelle „Don Juan“ aus den „Fantasiestücken in Callots Manier“ romantisiert die Oper aller Opern durch Verlagerung des Schauplatzes ins Innere des Dichters. Dieser erlebt das Werk in einsamer Fremdenloge und empfängt während der Vorstellung den geheimnisvollen Besuch Donna Annas. Sie, die heimliche Hauptfigur, ist die Inkarnation der Musik selbst und schließt dem Dichter das wunderbare Geisterreich auf, das der dämonische Verführer Giovanni vor seiner Höllenfahrt vergeblich im irdischen Genuss der Frauen sucht. Die Loge – übrigens die erste einer langen Reihe literarischer Opernlogen – wird zur Stätte des sublimierten Eros und der Begegnung mit dem Genius Mozart selbst: „Nur der Dichter versteht den Dichter; nur ein romantisches Gemüt kann eingehen in das Romantische.“

Auch andere Geschichten kreisen um musikalische Inhalte. Die vom gleichnamigen Gemälde J.E. Hummels angeregte Erzählung „Die Fermate“ schildert Hoffmanns Italiensehnsucht und Liebe zum Belcanto; zugleich wendet sie sein gebrochenes Musikverhältnis ins Heiter-Mediterrane. In dem Kunstmärchen „Der goldene Topf“ wabert das fantastische Geschehen zwischen Alltag und Zauberreich, Dresden und Atlantis. Dessen Pforten tun sich auf, wenn der Student Anselmus wie im „Dreiklang heller Kristallglocken“ seine holde Serpentina mit ihren Schlangenschwestern erblickt. Hoffmanns innerlich gespaltene Märchenwelt, ob „Klein Zaches“, „Meister Floh“, „Nußknacker und Mausekönig“ oder „Prinzessin Brambilla“, stellt die gesellschaftliche wie psychologische Analyse neben die Geisterwelt und wirbelt beide Sphären in wirrem Maskenspiel durcheinander.

Ins Tragische wendet sich die Handlung in „Rat Krespel“ und „Der Sandmann“ – beide Novellen gehen ein in den Antonia- beziehungsweise Olympia-Akt aus Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Der schrullige Rat und Geigenbauer Krespel verliert Weib und Tochter durch den todbringenden Gesang. Im „Sandmann“ erliegt der Student Nathanael der Faszination der Puppe „Olimpia“, die mit „schneidender Glasglockenstimme“ ihre künstlichen Koloraturen trällert. Die Erzählung „Die Automate“ behandelt ebenfalls das Thema Mensch und Maschine im Zeichen der Musik. Hier konstruiert Hoffmann den für sein Denken typischen Gegensatz zwischen dem Reich starrer Mechanik und dem geheimen Bezirk ätherischer Naturlaute, die sich in der Sage um die Sphärenmusik versinnlichen. Beide Welten gehen in heutige kybernetische Klanginstallationen ein. (Unter dem Titel „Zeitgenosse Hoffmann“ stellt das Berliner Musikinstrumentenmuseum seit dem 5. Mai 2022 bizarre Perkussionsapparate aus und verweist auf Hoffmanns Pioniergedanken).

Seine analytisch präzisen wie schwärmerischen Rezensionen, seine tiefsinnigen Essays über vergangene und gegenwärtige Kunstanschauung machen Hoffmann zum Vater der Musikkritik. Er folgt damit dem Anspruch, den Friedrich Schlegel an die Kritik stellt: mittels Reflexion, Diskurs und poetischer Weiterdichtung ein künstlerisches Gebilde zur Vollendung zu bringen. Die Kritik wird selber zum Kunstwerk. Was für Schlegel die Prosa, das ist für Hoffmann die Instrumentalmusik: „Sollte, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein? Sie ist die romantischste aller Künste.“

Auch Hoffmanns spezifische Tonartenästhetik, wie er sie in Kreislers „musikalisch-poetischem Klub“ aus der „Kreisleriana“ entwickelt, prägt die Tonartensymbolik der Romantiker. Seine subjektive Zuordnung verwandelt die barocken Affekte in Stimmungen und extreme Gefühlsinhalte. Mit hämmernden Akkorden etwa wird das c-Moll dämonisiert, mit dem der Teufel einzieht, der mit Knochenfäusten nach Kreisler greift und ihn in den Wahnsinn treibt. Das entspricht dem Bild, das Hoffmann von Beethovens Sinfonik entwirft, die für ihn die „Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes“ bewegt. Kreislers c-Moll-Paraphrase könnte die poetische Keimzelle für die Samiel-Musik des Weberschen „Freischütz“ sein. Weber sieht in Hoffmann einen ästhetischen Mitstreiter und Bruder im Geiste. Mit der Oper „Undine“ gelingt dem Universalgenie Hoffmann der Vorstoß in die „einzig wahrhafte“, die romantische Oper. Enthusiastisch rühmt Weber den „magischen Bilderkreis“ des Werkes, das eine ganze Serie von Undine-Vertonungen einleiten soll.

Der Musiker Hoffmann steht noch mit einem Bein im 18. Jahrhundert, während der Dichter menschlicher Abgründe seiner Zeit vorauseilt. Mit der Figur Kreislers, den Schauern des Nachtstücks „Der Sandmann“ und dem Roman „Die Elixiere des Teufels“ bereitet er künftiger Psychoanalyse das Terrain. Die düstere Geschichte um den Mönch Medardus spannt den Bogen vom Edgar-Wallace-Krimi „Der schwarze Abt“ bis zu Hitchcocks Film „Psycho“. Die den Gerichtsakten entnommene Story „Das Fräulein von Scudery“ um den mordenden Pariser Goldschmied regt Edgar Allen Poe an und liefert noch Paul Hindemiths Oper „Cardillac“ den packenden Stoff des von den eigenen Schmuckfetischen heimgesuchten Künstlers. Franz Kafka und Ingmar Bergman zitieren Gestalten aus den Kabinetts Spalanzanis und Dapertuttos herbei. Das Frankreich des 19. Jahrhunderts schwärmt für den Gespenster-Hoffmann; Stendhal, Balzac, Théophile Gautier und Baudelaire winden ihm rhetorische Kränze. Ein Wahlverwandter der Dämonie ist Offenbach – auch darin, dass er um die Vollendung seines letzten Werkes ringt. Wie Charaktermasken haften die minutiös gezeichneten Klangfiguren an den skurrilen Gestalten: die Peitschenhiebe des f-Moll Vorspiels, das trotzig-zopfige Leitmotiv des Widersachers, der „kräftige deutsche Rundgesang“ der Studenten, den Hoffmann im „verlorenen Spiegelbild“ erwähnt. Im gezirkelten Menuett und den Koloraturen der Puppe Olimpia spiegelt sich satirisch die erstarrte Opera seria, während der Spieldosenwalzer die vom Meistererzähler gleichfalls inspirierten Ballette assoziiert: „Coppelia“ von Leo Delibes und „Der Nussknacker“ von Peter Tschaikowski. Was der Olympia-Akt mit seinem buntem Maskenfest dem „Sandmann“ an Horror schuldig bleiben mag, holt der Antonia-Akt in Dr. Mirakels Hypnose und der dunkel-nostalgischen Arie des Mutterbildes nach. Die Anregung zur Vielfalt all dieser Ton- und Klangbilder, Masken, Fratzen, Schatten und Visionen entstammt der Feder des „funkensprühenden Prometheus“ (Gautier). Hoffmann und seinem zweiten Ich, dem fantasierenden Kreisler am Klavier, sei demnach das Ende der kurzen Arabeske gewidmet: „Was rauscht denn so wunderbar, so seltsam um mich her? Holde Geister sind es, die die goldenen Flügel regen – dies sei der heitre beruhigende Schlussakkord in der Tonika.“

Wolfgang Molkow

 

 

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