Dies das Phänomen Nummer eins: Die Musical AG hatte gerufen und alle, alle kamen. Diese nur der Hamburger vergleichbare Münchner Gesellschaft der offenen Upper Class war repräsentativ erschienen, von den auch nur großbürgerlichen Wittelsbachern über die Millionäre des Neuen Marktes und die sonstigen Eintags-Brummer bis zum Fußball-Kaiser. Eine solche, strukturell seit 200 Jahren unveränderte, die Politik gerade mal (er-)duldende Gesellschaft benötigt und verkraftet den Hofnarren: Der beinahe zu spät kommende Ministerpräsident Edmund Stoiber, im feschen Trachten-Janker, musste es sich gefallen lassen, vom Mode-Clown Rudolph Moshammer begrüßt zu werden. Der hatte eigentlich Hausverbot und gelangte nur dank der Protektion der Autoverleih-Chefin Regine Sixt ins neue Musical Theater Neuschwanstein... Dieser Theater-Bau ist das Phänomen Nummer zwei. Er stellt alle deutschen Theater-Neubauten seit 1945, das Aalto-Theater in Essen vielleicht ausgenommen, in den Schatten. Seine Erbauerin, Josephine Barbarino, hatte die von den 1848er-Revoluzzern Gottfried Semper und Richard Wagner ideologisierte Idee des demokratischen Theaters aufgegriffen, in dem außer den Privilegierten in der Königsloge alle Besucher gleichberechtigt sitzen. Alle Menschen sind gleich; nur zwei Personenkreisen sind herausgehobene Positionen gestattet: den Künstlern auf der Bühne und, ihnen gegenüber, dem Sachwalter der Künste, dem König. Gottfried Sempers Bauidee fußte auf Palladios 1585 eröffnetem Teatro Olimpico in Vicenza (Oberitalien), das mit seinem ansteigenden Halbrund des Zuschauerraums vor der Orchestra und dem Bühnenhaus sich wiederum die römischen (und griechischen) Amphitheater zum Vorbild genommen hatte. Palladios Modell setzte sich gegen die gesellschaftlichen Entwicklungen des Feudalismus und der Gegenreformation ebenso wenig durch, wie 300 Jahre später Sempers Modell des demokratischen Theaters gegen die adlig-bürgerliche Klassendominanz. Verwirklicht wurde es nur im Münchener Prinzregenten-Theater (1901), im 1944 zerbombten Charlottenburger Schiller-Theater (1908) und im Festspielhaus Bayreuth (1876). In allen anderen Theaterbauten widerspiegelt die Vierteilung in Parkett, Ränge, Logen und Stehplätze den jeweiligen Zeitgeist. Erst mit der Theaterarchitektur des Jugendstils wurde unter Beibehaltung des Klassen-Prinzips bautechnisch eine Art Gleichwertigkeit der Besucherplätze erreicht. Ludwig II., übrigens, favorisierte die Semper-/Wagner-Idee des königlich-demokratischen Theaters; eine der vielen Niederlagen, die er auf dem Gebiet seiner Kulturpolitik hinnehmen musste, war es, dass das entsprechende Festspielhaus nicht auf den Münchener Isarhöhen, dem Maximilianeum nahe, sondern in Oberfranken, einem weit entfernten wilden Landstrich, in einer obskuren Kleinstadt namens Bayreuth errichtet wurde, den Preußen und dem Bürgertum näher als Hohenschwangau und der Königs-Idee. Ob Josephine Barbarino mit ihrem Theaterbau in Füssen nun Ludwig II. oder der in sich widersprüchlichen Idee des königlich-demokratischen Theaters der Herren Semper und Wagner Tribut zollen wollte, ist angesichts des Ergebnisses ihrer Arbeit gleichgültig. Ihre Entscheidung, die Baupläne des Bayreuther Festspielhauses und des Münchener Prinzregenten-Theaters zur Grundlage ihres Neubaus zu machen, erweist sich als zeitlos-richtig: Für das Musiktheater auf der mich immer mehr faszinierenden Guckkastenbühne mit ihrer gewissen Art von Magie (Robert Wilson) ist der nach Bayreuther Vorbild gestaltete Zuschauerraum geradezu ideal. Auf allen 1.389 Plätzen des dezent-eleganten, in den Naturfarben amerikanischen Walnussholzes belassenen Auditoriums, dessen Decke die Kopie eines Gemäldes aus Ludwigs Schlösschen Linderhof schmückt, sind Sicht und Akustik hervorragend. Dass die mit eigenen Service-Räumen ausgestattete Mittel-Loge, die alles inbegriffen mietbar ist, immer noch Königsloge heißt, löst ironische Assoziationen aus: Ob wohl das sie künftig nutzende Kapital sich ihrer historischen Bedeutung erinnern wird? Die Lage des ganzen Theater-Komplexes mit großzügig angelegten Foyers, Terrassen, Gartenanlagen und Parkplätzen, mit nicht weniger als vier Restaurants und einem auch für Tagungen geeigneten Panoramasaal am Ufer des den Lech stauenden Forggensees mit Blick auf die Allgäuer Alpen und natürlich auf die selbstverständlich nächtens angestrahlten Königsschlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein ist das Phänomen Nummer drei und fordert Respekt: Hier wurde dem Thema am adäquaten Ort das adäquate Haus errichtet. Zugleich kommt die bohrende, bei einigem Überlegen in Ärger umschlagende Frage auf: Warum bedurfte es privater, auch privatwirtschaftlicher Initiative, um einen der Gegenwart adäquaten Theaterkomplex zu errichten? Längst ist bekannt, dass von Traditionsbühnen in Großstädten abgesehen das Theater nur dann eine Zukunftschance hat, wenn es sich als regionales Kultur- und Kommunikationszentrum der gewandelten individualistisch-demokratischen Neu-Gier-Gesellschaft zur Verfügung stellt. Wer will denn in einem nur zur Vorstellungszeit erleuchteten Haus tagsüber die Eintrittskarten am düsteren Schalter bei einer nach BAT bezahlten Angestellten kaufen, die weder weiß, wer abends singt, noch Auskunft geben kann, ob die Schamhaare der Lulu auf dem Theaterplakat eventuell die ganze Veranstaltung als jugendgefährdend erscheinen lassen? Das Theater muss seinen berechtigt elitären, seinen die öffentliche Finanzierung rechtfertigenden bildungspolitischen, seinen freiheitlich-künstlerischen Anspruch nicht verraten, wenn es sich öffnet zu einem Ganztagsbetrieb, in dem die Dramaturgen an der Kasse sitzen, in dem die Literatur zum Spielplan samt Tageszeitung und Capuccino im Foyer zur Verfügung stehen, in dem eine unterhaltsame Vermittlungs-Veranstaltung der anderen folgt: Je höher der künstlerische Anspruch, desto größer der Bedarf nach Vermittlung. Das Publikum, die Erfahrungen der Museen beweisen es, will die Vermittlung und bedarf der Vermittlung, denn die Künste sind fast so kompliziert geworden wie die Computertechnik, doch die Theater, in ihrer Mehrzahl und unter Anleitung des künstlerisch vollkommen erstarrten Deutschen Bühnenvereins, verweigern sie. Der Theater-Komplex am Forggensee ist wegweisend, mag er auch aus der kalkulatorischen Notwendigkeit entstanden sein, gleich einem Fun-Park möglichst viele Nebeneinnahmen zu erzielen. Die Angebots-Palette umfasst alle erdenkbaren Freizeitaktivitäten; im Theatermarkt ist Sisis Kochbuch zu erstehen und nach dem Theatermenü im Romantikrestaurant kann auf einer neuhochdeutschen Backstage-Tour das Bühnenhaus mit seiner Technik besichtigt werden. Es zeigt Gero Zimmermanns, des Technischen Direktors Bayreuths, Handschrift und ist mit 36 Metern Bühnentiefe samt großer, in sich gegenläufiger Drehbühne vom Feinsten. Wenn Ludwig II., die geheimnisumwitterte Frage nach seinem tatsächlichen Ende offen lassend, im 30 Tonnen schweren, 90.000 Liter fassenden Starnberger See-Bassin auf dem Weg ins geträumte Paradies untergeht, wenn er im Ballon die Erde umkreist, wenn er, von zwei echten Pferden gezogen, im Prunkschlitten durch die winterliche Sternennacht fährt, brandet zum Trampeln sich steigernder Applaus auf, in dem Text und Musik untergehen. Immer dann, wenn es dem Librettisten, Regisseur (und Intendanten) Stephan Barbarino gelingt, Bild und Situation zur dramatischen Station in des Königs Leben zusammenzufügen, ist das Musical auf seiner Höhe; vollkommen zu Recht wird neben Librettist und Komponist der Bühnenbildner Heinz Hauser als dritter Autor auf dem Programmzettel genannt. Sein Bühnenzauber ist teils naives, teils surrealistisches Volks- und Märchentheater mit den Mitteln ausgefeiltester Technik. Von der Hinterbühne gesehen, mit Blick auf den König in seiner Loge, turnen da Wagners Rheintöchter in ihren historischen Schwimmgeräten, kämpft Siegfried mit dem Drachen, während Richard Wagner in der Kulisse es mit Cosima von Bülow treibt. Ludwig entdeckt sie dort und aus ist es mit Männerfreundschaft und gemeinsamen Festspielplänen: Julian Tovey, darstellerisch ganz der König, darf eine Weltschmerz-Arie singen und fügt sich endlich dem Rat seiner ihn von Geburt an begleitenden drei Nymphen, sich von Wasser, Weibern und Staatsgeschäften fern zu halten und stattdessen Schlösser zu bauen. Mir san deine Hexenweiber, Schutzmatronen, Zeitvertreiber (Christina Contes, Rosemary Porte, Tamara Wörner) anempfehlen sich die einem bajuwarischen Macbeth entstiegenen Kobolde ihrem Schützling, dem aber, weil er nicht auf sie hört, alles das zustößt, was die Geschichte vorschreibt: Kriege führen und eine verhängnisvolle Rolle bei der Reichsproklamation 1871 spielen zu müssen, sich gegen die Trends und die Konventionen der Zeit nicht behaupten zu können. Seine Traumliebe zu Elisabeth von Österreich (Gabriele Schmid) wird so verschnulzt dargestellt, wie die Ludwig-Legende es will, und seine Entlobung von deren Schwester Sophie zeigt, wo des Komponisten Franz Hummel Stärken liegen: Annette Mayer singt die Offenbach-Barkarole so schaurig-schön in den Grund und Boden der Parodie, dass Ludwig entsetzt die Flucht ergreift, das Publikum jedoch begeistert wiehert. Vom K.A. Hartmann- und R. Leibowitz-Schüler Franz Hummel, 1939 in Altmannstein geboren, war bisher überwiegend neutönend Seriöses bekannt, so seine Opern Ubu, Blaubart und Luzifer. Nur seine Opernparodie Sallad (1983) deutete an, weshalb künftig der Begriff Hummel-Flug nicht mit Rimsky-Korsakoff, sondern mit dem Ludwig-Musical in Verbindung gebracht werden wird, so mit dem Lederhosen-Stepp-Plattler oder mit der Musik zu Ludwigs multisexuellem Rauschgelage in Linderhofs Maurischem Kiosk: Cannabis, Kanapee! Dea ma nix, dram ma schee, etza zwickts Dekolleté. Wassernix, hast koan Zeh! Sog`n ma amoi, sapperdix, raus aus`m Stoi, schnapp da de Schix. Selbst wer, des Bayerischen nicht mächtig, zur viersprachigen Leuchtschrift-Übersetzung hinaufschauen musste, konnte sich dem ohrwurmverdächtigen Sog dieser gnadenlos bayerisches Musikgut ausbeutenden Nummern nicht entziehen: Geld ham` ma koans, Schloss brauch` ma koans! Was für Bayern richtig is`, des wiss`n mir alloans!, singt das Kabinett. Hummel selbst hat erklärt, dem Geist dieses Musicals entsprechend sich mal nachempfindend, mal parodierend bei Verdi und Wagner, bei Offenbach und Liszt, bei Mussorgsky und Weill bedient zu haben. Auch Richard Strauss, vor allem dessen Vier letzte Lieder, war herauszuhören in diesem erstaunlicherweise sich doch zum Ganzen fügenden Klang-Mix, der, ohne allzu viel zu webbern, zwischen breitem Sound von Kinomusik und parodierendem Accompagnato sich bewegt. Unbefriedigend war bei der Premiere die offenbar noch nicht eingespielte Tontechnik. Alle Klänge kamen über Lautsprecher, die Sänger via Mikroport verstärkend, dem kleinen Orchester unter Leitung von Bartholomew Berzonsky viel Musik, vor allem die Tutti des Chores und der Streicher vom Band zuspielend. So ist auch das sängerische Können des darstellerisch durchweg hervorragenden 34-köpfigen Ensembles (die zwei namentlich genannten Schlittenpferde eingerechnet) schwer zu beurteilen. Manch königliches Vibrato, manch verschmiertes Duett war wohl eher dem Tondesign als den Sängern anzulasten. Die Elektronisierung des Klanges ist und bleibt im Musiktheater eine Behelfslösung. Für die Träume des König-Ludwig-Märchens eine originäre Heimat geschaffen zu haben, ist der Genie-Streich all der Erfinder dieses deutschen Musicals, das Rührstück und große Show in einem ist. Jetzt gilt es, die Refinanzierung dieses gelungenen, rund 80 Millionen Mark teuren Projekts zu bewältigen. Den Betreibern des Theatermarkts des Musical Theaters Neuschwanstein sei ans Herz gelegt, den von Martha Schad herausgegebenen Briefwechsel zwischen Ludwig II. und Cosima Wagner (Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1996) ins Buch-Angebot zu nehmen: Cosima ist dort besser kennen zu lernen als in ihrer Autobiographie, und Ludwig erweist sich als ernst zu nehmender Kulturpolitiker, der auch, aber nicht nur träumte.
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