Mit Joachim Schlömers Inszenierung von Rheingold, dem Vorabend von Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen, hat im März 1999 an der Stuttgarter Staatsoper die dritte Auseinandersetzung mit dem epochalen Werk ihren Anfang genommen, die nun erstmals zyklisch vorgestellt wurde. Und sie stieß von vornherein auf besondere Aufmerksamkeit, weil hier erstmals der Versuch angekündigt wurde, Wagners Vierteiler auch von vier verschiedenen Regisseuren in Szene setzen zu lassen. Anders als seine Vorgänger Wieland Wagner (1955/57) und Jean-Pierre Ponnelle (1977/78), die an den Folgeabenden das zu Ende führen konnten, was sie im Rheingold begonnen hatten, war Schlömers Auftrag mit diesem Stück bereits zu Ende. Er war der Startläufer einer Staffel, die von Stuttgarts Opernintendanten Klaus Zehelein auf den Ring-Marathon geschickt worden war, ohne dass Einigkeit über ein gemeinsam zu erreichendes Ziel bestehen musste. Zusammenhänge, Rückgriffe, Beziehungslinien waren ausdrücklich nicht erwünscht. Jeder der vier Regisseure sollte sich ganz auf seinen Ring-Teil konzentrieren. Eine Novität, ein Experiment wenn auch gegen Wagners Absicht. Um es vorwegzunehmen: Das Unterfangen ist, anders als ein ähnliches Projekt mit Peter Stein (Rheingold) und Klaus Michael Grüber (Walküre) Ende der 70er-Jahre in Paris, geglückt, wenn auch nicht in allen Teilen. Mehr noch: Der Stuttgarter Tabubruch hat Wagners Ring wohl sogar für das Repertoire verfügbarer gemacht. Auch kleinere Häuser werden künftig Einzelteile aus dem Gesamtwerk herausbrechen, um so ihre Spielpläne zu bereichern. Und wie hochkarätig und typgenau Pamela Rosenberg in Stuttgart die vier Ring-Teile besetzt hat, davon kann selbst Bayreuth nur träumen. Rheingold beispielsweise lassen Schlömer und sein Bühnenbildner Jens Kilian in einem Einheitsraum spielen: sie zeigen ein Jugendstil-Ambiente mit Springbrunnen, Empore und Fahrstuhl halb Villa Wahnfried, halb Foyer eines Nobelhotels der Gründerzeit. Hier agieren Menschen von heute und nicht etwa Götter und Riesen mit Rauschebärten und in Zottelfellen. Schlömer hat Wagners Mythos von Macht und Ohnmacht in die moderne Geschäftswelt verlagert, in der die Brandstifter sich nicht scheuen, die Maske der Biedermänner zu tragen. Schlömers Figuren geben sich auch nicht die geringste Mühe, ihre wahren Absichten zu kaschieren. Da alle um alle Tricks wissen, bedarf es hier auch keiner Zauberkünste, um einen Riesenwurm oder eine Kröte zu imaginieren. Da steht der entzauberte Zauberer Alberich (Esa Ruuttunen) im Scheinwerfer-Spot und zieht ein weißes Kaninchen aus der Tasche, wenig später die Plastik-Kröte, die er Wotan (Wolfgang Probst) und Loge (Robert Künzli) und uns, dem Publikum, einfach vor die Füße wirft. Nur Wotan begreift, was die beklemmende Erscheinung Erdas (Tichina Vaughn) ein großer Theatermoment in diesem hermetisch geschlossenen Raum andeutet: eine andere Welt hinter der eigenen. Ohne FallhöheZu vergleichbarer Stringenz und zwingender Aussage hat Christoph Nel in seiner Inszenierung des zweiten Ring-Teils, Walküre, nicht gefunden. Hier ist des Komponisten Alter Ego, also der Wälsung Siegmund, irgendwie unter die Räder gekommen und mit ihm das ganze Stück. Von einer geradezu manischen Furcht getrieben, herkömmliche Erwartungshaltungen im Hinblick auf Walküre zu bestätigen, hat Nel das Stück seiner romantischen Aura entkleidet. Dabei stört nicht so sehr, dass die Esche fehlt und Wotans Speer in einen neckischen Binsenhalm umgewidmet ist. Als schwerster Fehler erweist sich, dass Nel den Figuren ihre Fallhöhe verweigert. Es geht ausgesprochen kleinkariert zu. Strindberg-Figuren als Familie Mustermann. Auch Götter sind nur Menschen, will Nel uns sagen. Am Ende bleibt kalte Beliebigkeit. Brünnhildes Schicksal berührt nicht mehr. Ein Feuer ohne Zauber, ein Ende ohne Würde und anrührende menschliche Nähe, die den Gewissenskonflikt des Gottes mehr als eine tönende Behauptung erscheinen ließe. Zumal das männermordende Mädel in seiner unglücklichen Aufmachung (Kostüme Karl Kneidl) die Flamme auch noch selbst entzünden muss: drei Teelichter, die Herr Wotan, eben noch trottelig-gütiger Spielgeselle und Intimus auf einer Luftmatratze, der Tochter nach oben reicht. Nach oben? Nun ja, die Welt, die Nel und Kneidl zeigen, steht vielfach Kopf. Oben ist unten und umgekehrt. Wie anders ließe sich erklären, dass Siegmund (Robert Gambill) und Sieglinde (Angelika Denoke) bei ihrer Flucht vor Oberförster Hunding (bedrohlich: Phillip Ens) Hausfrauenkleid und Joggingdress überraschend gegen feinstes Tuch getauscht haben? Dass der Mord an Siegmund zunächst stellvertretend auf einem überdimensionalen Kasperltheater mit Marionetten als Akteuren über die Bühne geht, während die Sänger hinten an Pulten stehend via Flüstertüten die Ereignisse stimmlich begleiten? Allzu modisch ist die Bildersprache dieser Inszenierung, ihre Technikfixierung aus dem Zeitgeist der 90er-Jahre herausentwickelt. Ein Thriller Was nur machen mit einem solchen Kotzbrocken? Das Ketchup kippt
er kübelweise über die Kartoffeln, die Füße
gehören seiner Ansicht nach auf den Tisch. Die Kleidergröße
XXXL ist gerade noch recht, aber die kleine, ärmliche Welt,
in der er aufgewachsen ist, wird ihm zu klein und zu eng. Will man
für Jossi Wielers Stuttgarter Ring-Beitrag Siegfried-Vergleiche
bemühen, so muss man auf Patrice Chereaus Jahrhundert-Inszenierung
von 1976 zurückgreifen. Wielers Genauigkeit im Lesen, Deuten
und Umsetzen der Texte ist dem großen Wurf von damals ebenbürtig. Auf seinem Weg zum Brünnhildefelsen und in die Welt stürmt ein wild gewordener Schlagetot durch Erdas (Eva Randova) Reich. Dass dieses Riesenbaby keinem Streit aus dem Weg geht, muss auch Wotan (packend: Wolfgang Schöne) erfahren. Und Brünnhilde hat sich den hehrsten Helden der Welt sicher anders vorgestellt als dieses bluttriefende, zottelhaarige Monster, das da in ihr steriles Schlafgemach aus weißem Schleiflack im Hoolywood-Stil der 60er-Jahre hineinstapft. Ein Kulturschock für beide. Mit dieser zweiten Szene im dritten Aufzug hat Jossi Wieler Theatergeschichte geschrieben. Noch nie ist uns so genau, durchdacht und psychologisch bis ins Detail ausgeleuchtet vor Augen und Ohren geführt worden, was in dieser Szene tatsächlich passiert. Da prallen zwei Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können: hier die eben in ihrem Boudoir aus dem Tiefschlaf erwachte Dame der besten Gesellschaft, dort der blutbesudelte Wilde mit dem Schwert in der Faust. Spricht sie von ihrer Vergangenheit, von Wotan, Walhall, ewigem Wissen und ihrer Jungfräulichkeit, versteht dieser Naturbursche nur Bahnhof, will nur das eine. Wie soll das gutgehen? Es geht gut: Und es ist eine aufregende Erfahrung, mitzuerleben, wie Lisa Gasteen und Frederic West die Gefühle dieser beiden Menschen mit dem höchsten Mut zum Risiko zwischen banger Verletzlichkeit und praller Komödiantik ausleben und dennoch die Würde der Figuren wahren. Alles nur Theater? Die wohl schwierigste Aufgabe im neuen Stuttgarter Ring
haben Regisseur Peter Konwitschny und sein Bühnenbildner Bert
Neumann übernommen. Wie ein Ende finden für heute, das
zugleich einen Neubeginn signalisiert? Wie den von Wagner vorgesehenen
Weltenbrand samt Sintflut illusionieren, ohne nicht zugleich dadurch
erst recht bewusst zu machen, dass eben alles nur Theater ist? Und so ist es denn nur konsequent, dass Konwitschny an dieser
Stelle auch Wagners Theater abbricht und Brünnhilde nach und
nach alle diese Theatergestalten von der Bühne schicken lässt:
Gutrune, Hagen (überwältigend: Roland Bracht), die Mannen.
Selbst die Toten müssen gehen Gunther und
Siegfried. Allein auf der Bühne verkündet Brünnhilde
(wunderbar intensiv: Luana DelVol) die Botschaft des Werks
als Stimme der Moral und der menschlichen Werte. Der Rest ist nicht
Schweigen, gehört aber dem Auch-Literaten Wagner, dessen Regieanweisungen,
wie sie in der Partitur stehen, zu den Schlusstakten auf eine Leinwand
projiziert werden. Konstante OrchesterStuttgarts GMD Lothar Zagrosek und das Staatsorchester waren in dieser ungewöhnlichen Auseinandersetzung mit Wagners Ring die einzigen Konstanten. Und Zagrosek ist im Verlauf der erneuten Auseinandersetzung mit dem Werk ohne Zweifel gewachsen, hat gelernt, auf die unterschiedlichen Anforderungen des Werks auch unterschiedlich zu reagieren. Im Verbund mit dem hellwach und präsent musizierenden Orchester traf er den Parlandoton des Kammerspiels Rheingold nicht minder genau wie er den dramatischen Entladungen des Trauermarschs in der Götterdämmerung emphatisch und lang nachhallend freien Lauf oder den Atem der Tragödie im Siegfried aus dem Orchestergraben Klanggestalt annehmen ließ. Gleichwohl fehlte es gerade im ersten Aufzug der Walküre am psychologisch so wichtigen Element der subtilen Zwischentöne. Der Liebeslenz verströmte kaum betörend-rauschhafte Sinnlichkeit, dem Feuerzauber hätten ein paar resignative, wehmütige Schattierungen gut angestanden. Gerade in diesem Stück wurde über weite Strecken holzschnittartig, grell und laut musiziert. In dieser Beziehung hat der neue Stuttgarter Ring durchaus noch Möglichkeiten zur Entwicklung und Differenzierung, die auf der Bühne so beispielhaft ausgebreitet werden.
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