Dass dieser Reinigungsprozess trotz des Triumphs der Madame La Peste am Ende misslingt, darf als Botschaft genommen werden. Andererseits hat Stäbler, der sich auf Debussys Les nocturnes beruft und fragmentiert verwendet, keine Verlautbarungsmusik geschaffen. Er und sein Librettist Matthias Kaiser hissen kein Hoffnungsfähnchen auf einem Verzweiflungsturm. Vielmehr intendieren sie das Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von Hoffnung und Verzweiflung. Die großen Bühnen in Duisburg und Düsseldorf werden teilweise zu regelrechten Schlachtfeldern. In einer grotesken Horrorszene hängt Hannele Järvinen als stumme Tänzerin mit dem feuerroten Haar der Lady Madeline und rückwärts baumelnden Armen an einem Mikrofonständer. Wie die Schächer auf Golgatha. Doch ein ultimativer Triumphschrei gelingt ihr nicht. Das letzte Wort gehört der Musik. Aus den Rängen hoch über dem Zuschauerraum kommt Chorgesang. So wie die Kunst nicht einfach aus dem verkehrten Leben verschwindet, behauptet sich auch die Hoffnung hervorgetrieben aus ihrem Gegenteil. Stäblers Madame La Peste, die dritte Oper des Duisburger Komponisten, ist aufs Ende komponiert und von dort zu begreifen. Allerdings ist so auch zu ermessen, inwiefern die mäandernde Textvorlage von Matthias Kaiser in Mithaft genommen werden muss. Dies festzuhalten ist insofern zentral, als daran deutlich werden kann, was aufs Konto einer Regiearbeit geht, die vor lauter Libretto-Bäumen den Wald nicht mehr gesehen hat. Die vier Bilder der Oper beginnen mit einem Prolog, in dem der junge Kommunist Pan (Christopher Lincoln) der Verführungskraft der stummen Madeline erliegt. Im zweiten Bild wird Paris wegen Pestalarm von der Außenwelt abgeschlossen. Quarantäne über der Stadt, von Bühnenbildner Florian Parbs in einen Cordon sanitaire aus Plastikplanen übersetzt. Eine Extremsituation, in der bis auf Pan alle das machen, was sie sonst auch machen: Pläne schmieden, buhlen, töten, beten. Ein Serum gegen die Krankheit wird fahrlässig verschüttet. Pest und Terror richten alle und alles zugrunde. An dieser Stelle könnte die Geschichte, die dem 1928 erschienenen Buch Ich zünde Paris an des polnischen Exilliteraten Bruno Jasienski abgewonnen ist, bereits ins Schlussbild übergehen. Doch Matthias Kaiser eröffnet ein weiteres Tableau. Er führt ins Haus Usher, dessen Untergang Edgar Allen Poe in seiner 1839 veröffentlichten schwarzromantischen Erzählung schildert. Kaiser verschärft die sehr im Nebulösen liegende Situation um das Geschwisterpaar Roderick und Lady Madeline zum Inzestdrama, an dem auch der hinzugebetene Dichter Poe nichts mehr ausrichten kann. Erst Sündenfall und Pestalarm, dann Psychobunker. Insofern muss das Tribunal im abschließenden vierten Bild aus dieser Verzweiflungslogik herausspringen. Unvermittelt stehen die Opfer des Pestalarms als Angeklagte im Zuschauerraum, Zeugen und Richter ihnen gegenüber. Begleitet wird diese schrille Szenerie von einem leisen Spiel. Es erscheint das Mädchen Tschen, auch sie ein Opfer der Pest. Sie singt. Ihr hoher, langer Ton hält sich neben dem Gekreische der Richter. Hinter ihr steht ein Gewalttäter. Doch jetzt ist Solomin verwandelt zu einem Bündnispartner der singenden Hoffnung. Gemäß Libretto sollte er sich Tschen nähern, sie aufheben und wie ein schlafendes Kind hinaustragen. Regisseur Elmar Fulda, der nicht nur an dieser Stelle die klaren Symbole einer ausufernden Vorlage ignoriert, hat sich für eine Schubkarre entschieden. Zwar ist auch eine Schubkarre ein Bild des Aufgehobenseins, des Bewahrens von Hoffnung, doch frei von störenden Assoziationen ist sie nicht. So müssen es die Sänger eines insgesamt hervorragenden Ensembles, das von Günther Albers am Pult jederzeit präzise geführt wurde, allein richten. Dabei gerät das Duett zwischen dem bemerkenswerten Tenor Torsten Hofmann und Anke Krabbe mit ihrer schlanken Sopranstimme zu den ergreifendsten Momenten dieses Theaterabends. Inkommensurables Musiktheater wie Stäblers Madame La Peste benötigt dramaturgische Klarheit und Eindeutigkeit. Die Regie, die mit einem sperrigen Libretto freilich ihre liebe Not hatte, hat sich im Cordon sanitaire erst verlaufen, Inszenierungshilfen wie eine vorgesehene Bahnhofsuhr, die mit jeder Pestleiche um eine Stunde vorspringt, verschmäht und Schlüsselszenen vertändelt. Warum zum Beispiel nicht, wie vom Librettisten gewünscht, den verstörten Besuchern an die Theaterausgänge die letzten Klänge der Oper noch einmal als Klanginstallation hinterherschicken? Was hätte es geschadet, nur mit Musik im Ohr das Opern-Schlachtfeld am Rhein hinter sich zu lassen?
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